Swiis Federal Institute of Technology Zürich

12/15/2025 | News release | Distributed by Public on 12/16/2025 02:00

Erdbeben auf Knopfdruck

Erdbeben auf Knopfdruck

In einem ehemaligen Werktunnel der Matterhorn Gotthard Bahn wollen Forschende der ETH Zürich Gestein in Bewegung setzen. Ein Augenschein im Berg.

Die Doktorandin Kathrin Behnen und der Masterstudent Giovanni Stecca führen eine Logging-Sonde in ein Bohrloch ein, um dieses zu untersuchen. (Bild: Daniel Winkler / ETH Zürich)

Die Postautohaltestelle «Bedretto, Bivio per Ronco» liegt fast im Nirgendwo. Wer hier aussteigt, steht unmittelbar vor einer Kiesgrube mit Baracken, schwerem Gerät, Kippmulden, Kieshaufen. Es könnte irgendein Bauplatz sein, irgendwo in der Schweiz. Aber das ist es nicht: Dieses Gelände ist der Vorhof des BedrettoLab.

Anfang September 2025 geben die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Öffentlichkeit einen Einblick in ihre Arbeit. Denn nach Jahren der Vorbereitung und ersten Experimenten sind die Forschenden fast bereit für den Hauptakt, der im kommenden März über die Bühne gehen soll: die Aktivierung einer tektonischen Bruchzone im Gestein und damit die Auslösung von winzigen Erdbeben - quasi auf Knopfdruck.

Im Festzelt warten bereits die Forschenden, alle in gelben Arbeitskleidern, der Helm leuchtet hellgelb, die Jacke, die Hose. Sie sehen aus wie Tunnelarbeiter und das sind sie gewissermassen auch. Sie bereiten die Gäste auf den Gang in den Berg vor. Alle erhalten einen Helm, eine Warnweste sowie eine Stabtaschenlampe. Und schliesslich ein Atemgerät im Format einer Handtasche. Im Notfall rettet dieses 4,5 Kilogramm schwere Gerät Leben: Es ermöglicht, eine Stunde lang zu atmen - genug Zeit, um zurück zum Stolleneingang zu flüchten. Oder zum Furka-Bahntunnel.

Roboter auf Mission

Dieser Text ist in der Ausgabe 25/04 des ETH-​​​​Magazins Globe erschienen.

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Geschlossen wandert die Gruppe zum Stolleneingang. Auf einem Banner über dem Eingang steht in grossen Lettern «BedrettoLab - ETH Zürich». Dann tauchen alle ein in den Berg und damit in ein weltweit einmaliges Felslabor: Tief unter dem Pizzo Rotondo im Gotthardmassiv hat ein internationales Forschungsteam in den vergangenen Jahren ein Labor eingerichtet. Hier möchten die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unter anderem bis ins kleinste Detail untersuchen, wie Erdbeben ablaufen, was bei deren Auslösung geschieht, wie sie sich ausbreiten und wieder zum Stillstand kommen. FEAR nennt sich das Projekt, das durch den europäischen Forschungsrat mit einem Zuschuss von 13,7 Millionen Euro gefördert wird.

Das Projekt «FEAR - Fault Activation and Earthquake Rupture» wird von den ETH-Professoren Domenico Giardini und Stefan Wiemer, von Florian Amann von der RWTH Aachen und von Massimo Cocco vom Istituto Nazionale di Geofisica e Vulcanologia, Rom, geleitet. Für dieses Experiment haben die vier Projektleiter einen ERC Synergy Grant eingeworben. Finanziert wird das Projekt unter anderem auch durch den Bund oder über Mittel der Werner Siemens-Stiftung. Das Projekt hat eine Laufzeit von neun Jahren.

Der Stollen ist nur wenige Meter breit, gerade mal so, dass ein Fahrzeug durchkommt. Rechts vom Fahr- und Gehweg rauscht ein Bach in einem Graben. Er führt das Wasser ab, das aus dem Gestein austritt. An den Tunnelwänden entlang verlaufen Rohre, Kabel. Alte, längst rostige Haken stecken im Felsen. Die Decke ist nicht verputzt. Rostige Gitter, die an der Decke festgeschraubt sind, verhindern, dass Steine herabfallen. Trotzdem bleibt der Helm während der ganzen Zeit auf dem Kopf.

Schmieriges Gesteinsmehl weist auf die Aktivität der Bruchzone hin. (Bild: Daniel Winkler / ETH Zürich)

Während des Marsches immer tiefer in den Tunnel hinein bleibt Florian Amann, einer der vier Projektleiter, plötzlich stehen. Er zeigt auf einen unscheinbaren Riss im Gestein und streicht mit dem Finger darüber. Auf der Fingerkuppe sammelt sich hellgrauer Schlamm: Gouge - so nennt der Experte dieses Material. Es zeigt den Forschenden an, dass sich hier in der Vergangenheit Erdbeben ereignet haben. Dabei haben sich zwei Gesteinsmassen wie zwei Mühlsteine aneinandergerieben und so dieses Steinmehl erzeugt, das durch eindringendes Wasser schmierig geworden ist. «Dieses Material zeigt uns zuverlässig an, dass hier eine Bruchzone durch das Bergmassiv verläuft», erklärt Amann. Genau eine solche Störzone haben die Erdwissenschaftlerinnen und -wissenschaftler im Stollen gesucht. «Diese Kontaktzone sieht zwar unspektakulär aus, aber für uns ist sie Gold wert», betont er. Diese Bruchzone möchten die Forschenden nun ein bisschen «kitzeln», um winzige kleine Erdbeben auszulösen. Dadurch wollen sie mechanische Prozesse untersuchen und verstehen, wie Erdbeben ausgelöst werden. Die Erkenntnisse sollen dazu beitragen, die Vorhersage von Erdbeben zu verbessern. Denn exakte Prognosen, wann und wo sich Erdbeben ereignen werden, sind nach wie vor nicht möglich.

«Erdbeben stellen eine der bedeutendsten Naturgefahren und eines der gravierendsten globalen Risiken dar, und ungeachtet intensiver Forschungsbemühungen in den vergangenen Jahrzehnten verfügen wir nach wie vor über ein unzureichendes Verständnis», konstatiert Stefan Wiemer, Direktor des Schweizerischen Erdbebendienstes an der ETH Zürich und einer der vier Projektleiter von FEAR. Das möchten die Forschenden unter Tag jetzt ändern. Der Bedrettostollen ist für dieses Experiment geradezu ideal: Gesprengt wurde der Tunnel in den 1970er-Jahren für den Bau des Furka-Bahntunnels. Fünf Kilometer lang ist er und verbindet das Bedrettotal unter dem Pizzo Rotondo hindurch mit dem Bahntunnel. Nachdem der Bahntunnel fertiggestellt wurde, geriet der Bedrettostollen in Vergessenheit.

Als die Forschenden 2016 nach einem geeigneten Ort für ein Felslabor suchten, erinnerte sich der emeritierte ETH-Professor Simon Löw an den Seitentunnel. Wiemer und Kollegen inspizierten ihn - und waren begeistert. Genau so etwas musste es sein. «Der Bedrettostollen war kaum erschlossen und niemand hatte ihn genutzt», sagt Amann. Sie hätten sich auch Stollen in aktiven Minen angesehen, dort sei es aber unmöglich, wissenschaftlich zu arbeiten, «weil der kommerzielle Abbau im Vordergrund steht», ergänzt er. «Hier können wir uneingeschränkt forschen.»

Hochsensible Messinstrumente

Die Besuchergruppe stösst auf einen Abzweiger. Er ist hell erleuchtet; ein permanentes Dröhnen und Tosen erfüllt die Luft. Über das gelbe Lüftungsrohr an der Decke strömt Frischluft in die Kaverne. Es ist angenehm warm, wärmer als draussen. «Die Bohrarbeiten haben viel Wärme produziert», erklärt Wiemer, «deshalb ist es im Moment so gemütlich hier.» Den Seitentunnel liessen die Forschenden erst vor wenigen Monaten in den Fels treiben. Von hier aus werden sie die Bruchzone aktivieren. Um nichts zu verpassen und nichts dem Zufall zu überlassen, haben die Geowissenschaftlerinnen und -wissenschaftler zudem Dutzende von Bohrlöchern in den Felsen getrieben, insgesamt 3,6 Kilometer. Und die Bohrlöcher mit verschiedenen hochsensiblen Messinstrumenten und Sensoren ausgerüstet.

Die meisten Bohrlöcher dienen der Überwachung der Vorgänge im Gestein, andere der Injektion von Wasser, um die Beben auszulösen. Die im BedrettoLab verbauten Seismometer etwa können Erschütterungen von einer Magnitude von minus 5 wahrnehmen. Die Energie, die dabei freigesetzt wird, reicht gerade mal aus, um die Gesteinsmassen wenige Mikrometer gegeneinander zu verschieben. «Ein solches Messnetz direkt auf einer Störzone gibt es sonst nirgends auf der Welt», sagt Wiemer nicht ohne Stolz. Zwar gebe es ein weltweites Erdbebenmessnetz, aber die meisten Sensoren und Messinstrumente seien auf der Oberfläche stationiert und damit weit von den Orten entfernt, wo Erdbeben effektiv entstehen.

Felsen versetzen

Nun möchten die Forschenden die Früchte ihrer mehrjährigen Vorarbeit ernten. Entlang der Bruchzone wollen sie im März 2026 winzige Beben von sehr kleiner Magnitude auslösen und detailliert analysieren, was vorher, während und nach dem Erdbeben an der Verwerfung geschieht. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler suchen dann auch nach Anzeichen, die auf das bevorstehende Beben hinweisen. Dazu werden die Forschenden über Bohrlöcher hunderte von Kubikmeter Wasser mit hohem Druck in die Kontaktzone zwischen den beiden Gesteinsmassen pressen - so lange, bis sich diese ruckartig in Bewegung setzen, genauso wie zwei tektonische Platten im grossen Massstab.

Die Energie, die dabei frei werden wird, entspricht derjenigen eines Bebens von Magnitude 1. Das reicht aus, um die beiden Gesteinskörper gerade einmal einen Millimeter gegeneinander zu verschieben. «Die Magnitude dieser künstlich erzeugten Erdbeben soll so klein sein, dass ausserhalb des BedrettoLab niemand etwas spürt», betont Wiemer.

Die Heilige Barbara, Schutzpatronin des Tunnelbaus, wacht über den Versuchsstollen. (Bild: Daniel Winkler / ETH Zürich)

Datenberge generieren und abtragen

All die Instrumente, wie etwa Seismometer oder Geophone, die die Forschenden in den letzten Monaten und Jahren in den Felsen versenkt haben, werden dann in Sekundenbruchteilen Millionen von Messpunkten aufzeichnen. Dank ihrer künstlich ausgelöster Minibeben und den zahlreichen Sensoren, die im und auf dem Fels stecken, können die Forschenden jedes Detail des Bebens aufzeichnen und in Echtzeit mitverfolgen. Der Datenberg, den nur schon eine Messung erzeugen wird, ist daher mehrere Terabytes hoch.

Der Versuch wird kontinuierlich überwacht - in Echtzeit werden die Daten an die ETH Zürich übermittelt. Dort können die Versuchsleiterinnen und -leiter den Wasserdruck jederzeit so regulieren, dass die Situation nicht ausser Kontrolle gerät - oder den Druck erhöhen, damit die Gesteinsmassen in Bewegung geraten. Amann schliesst allerdings eher aus, dass sich ein unkontrollierbares starkes Beben ereignet. «Wir können froh sein, wenn wir die Gesteinsmassen überhaupt in Bewegung setzen können. Über unserer Experimentalstelle liegen mehr als 1000 Meter kompaktes Gestein von geschätzt 35 Millionen Tonnen Gewicht», gibt er zu bedenken.

Aber lassen sich die Erkenntnisse aus diesem Versuch auch auf grosse Erdbeben anwenden? Beben, bei denen tektonische Platten über hunderte von Kilometern mehrere Meter gegeneinander verschoben werden, wie beispielsweise im Frühling 2025 in Myanmar beim Erdbeben, das eine Magnitude 7,7 erreicht hatte? «Das ist eines der Ziele, das wir verfolgen: Die im BedrettoLab gewonnenen Erkenntnisse sollen auf Systeme von grösserem Massstab übertragbar sein», betont Wiemer. «Die Physik ist dieselbe, ob es sich nun um ein Minibeben von Magnitude 1 oder um ein gigantisches Beben von Magnitude 7 handelt.»

Tor zur Unterwelt: der Eingang des BedrettoLab. (Bild: Daniel Winkler / ETH Zürich)

Zurück ans Tageslicht

Für die Besuchergruppe wird es Zeit, den Stollen zu verlassen, die Forschenden bleiben bei ihren Messgeräten und Apparaturen. Die Besucherinnen und Besucher machen sich auf den 2,5 Kilometer langen schnurgeraden Weg ans Tageslicht.

Es regnet draussen. Wolken verdecken die Gipfel um das Bedrettotal herum. Trotz des schlechten Wetters ist man froh, den grauen Himmel statt der grauen Tunneldecke zu sehen und frische Bergluft einzuatmen. Hier draussen und im Tal werden die Menschen nichts spüren, wenn die Forschenden im Inneren des Berges Minibeben auslösen. Aber vielleicht werden, wenn die Forschenden die Datenberge abgetragen und ausgewertet haben, diese Minibeben zu besseren Prognosen von Erdbeben führen - und die Talbewohnerinnen und -bewohner in Zukunft rechtzeitig vor einem echten, spürbaren Beben warnen.

Swiis Federal Institute of Technology Zürich published this content on December 15, 2025, and is solely responsible for the information contained herein. Distributed via Public Technologies (PUBT), unedited and unaltered, on December 16, 2025 at 08:00 UTC. If you believe the information included in the content is inaccurate or outdated and requires editing or removal, please contact us at [email protected]