German Federal Government

01/21/2025 | Press release | Archived content

„Wir brauchen Klarheit und Standfestigkeit”

Kanzler Scholz in Davos: "Abschottung kostet Wohlstand. Europa setzt auf freien, fairen Welthandel."

Foto: Bundesregierung/Guido Bergmann

Bundeskanzler Olaf Scholz hat beim diesjährigen Weltwirtschaftsforum in Davos teilgenommen. Neben einer Rede vor dem Plenum nutzte er den Besuch, um sich mit zahlreichen internationalen Wirtschaftsvertreterinnen und -vertretern auszutauschen.

Lesen Sie hier das Wichtigste in Kürze:

  • Frieden und Sicherheit: Ganz besonders in Fragen von Frieden und Sicherheit gehe es um "Klarheit und Standfestigkeit", betonte Scholz. Das Prinzip der Unverletzbarkeit von Grenzen gelte immer und überall. Deshalb dürfe Präsident Putin mit dem von ihm entfesselten Angriffskrieg gegen die Ukraine keinen Erfolg haben.
  • Deutsch-amerikanische Partnerschaft: Die Vereinigten Staaten sind Deutschlands wichtigster Verbündeter außerhalb Europas. Bundeskanzler Scholz: "Ich werde alles daransetzen, dass es dabei bleibt." Die enge Zusammenarbeit zwischen Europa und den USA sei unerlässlich für Frieden und Sicherheit weltweit und Motor für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung.
  • Starkes Europa: Scholz unterstrich, dass die Europäer selbst wettbewerbsfähiger und widerstandsfähiger werden müssten - etwa bei gemeinsamen Rüstungsprojekten. Deutschland werde den freien Handel als Grundlage des Wohlstands auch gemeinsam mit anderen Partnern verteidigen.

Sehen Sie hier die Rede des Kanzlers:

14:47

Video Rede von Kanzler Scholz beim Weltwirtschaftsforum

Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede:

Sehr geehrter Herr Professor Schwab, lieber Klaus,

sehr geehrter Staatspräsident Selenskyj, lieber Wolodymyr,

sehr geehrter Herr Brende,

meine Damen und Herren!

Daron Acemoğlu ist einer der drei aktuellen Wirtschaftsnobelpreisträger. Jahrelang hat er sich mit der Frage beschäftigt, warum manche Länder wohlhabend sind und andere nicht. Eine zentrale Erkenntnis: Langfristig führt der Weg zu Wohlstand über starke, vertrauenswürdige Institutionen; so weit Daron Acemoğlu.

Natürlich zitiere ich ihn hier und heute nicht zufällig. Gerade in dieser extrem dynamischen Epoche ist es wichtig, dass wir besonnen und berechenbar handeln. In vielen unserer Länder erleben wir ähnliche Entwicklungen: Berechenbarkeit, Ehrlichkeit und Verlässlichkeit haben zunehmend einen schweren Stand. Zugleich bricht sich in unseren Debatten ein Schwarz-Weiß-Denken Bahn, das einfache Lösungen zwar verspricht, aber niemals liefern kann. Denn die Welt da draußen wird ja nicht schwärzer oder weißer, sondern eher komplexer und komplizierter.

Uns alle stellt das vor nie gekannte Herausforderungen. Klar, wir sind vom Nutzen starker Institutionen und Rechtsstaaten überzeugt. Aber wie schützen wir sie gegen Angriffe von innen und außen? Klar, wir wissen um den Zusammenhang zwischen Berechenbarkeit, Vertrauen und Wohlstand. Aber wie erhalten wir diesen Konsens und überzeugen auch andere neu davon? Das sind Fragen von enormer Bedeutung, die uns hier in Davos zu Recht beschäftigen.

Bevor wir darüber gleich ins Gespräch kommen, möchte ich meine Gedanken dazu beisteuern. Erstens: Wir brauchen Klarheit und Standfestigkeit. Das gilt ganz besonders in Fragen von Frieden und Sicherheit. Wir müssen alles dafür tun, die fundamentalen Prinzipien internationaler Ordnung zu erhalten, und das fundamentalste Prinzip ist die Unverletzlichkeit von Grenzen. Übrigens gilt das immer und überall. Wer dieses Prinzip infrage stellt, der stellt die internationale Ordnung insgesamt infrage, der stellt Frieden und Wohlstand infrage, und zwar auch weltweit.

Deshalb darf Präsident Putin mit dem von ihm entfesselten Angriffskrieg gegen die Ukraine keinen Erfolg haben, und, was oft übersehen wird, bislang hat er damit auch keinen Erfolg. Putin wollte die Ukraine und die EU auseinandertreiben. Stattdessen ist die Ukraine heute EU-Beitrittskandidat. Er wollte eine möglichst schwache, uneinige NATO. Stattdessen ist die NATO geeinter als je zuvor und mit Schweden und Finnland um zwei Mitglieder gewachsen. Er wollte ein prorussisches Marionettenregime in Kyjiw installieren. Stattdessen ist die Ukraine als Nation gefestigter denn je. Und er wollte die Ukraine militärisch unterwerfen. Stattdessen ist die ukrainische Armee heute viel größer und stärker als vor dem Krieg, ausgerüstet mit westlichen Waffen.

Das alles ist in erster Linie ein Verdienst der tapferen Ukrainerinnen und Ukrainer, aber eben auch das Resultat unserer Unterstützung. Diese Unterstützung ist und bleibt der Weg hin zu einem echten, gerechten Frieden für die Ukraine. Dafür stimmen wir uns in Europa auf das Engste ab - mit den Vereinigten Staaten und natürlich mit der Ukraine. Denn das letzte Wort müssen die Ukrainerinnen und Ukrainer selbst haben. Nothing about Ukraine without Ukraine! Diese Klarheit in den Prinzipien braucht es.

Zweiter Gedanke: In einer Welt, die sich im Spiegel sozialer Medien permanent am Rand des Nervenzusammenbruchs bewegt, sind kühle Köpfe gefragt. Nicht jede Pressekonferenz in Washington, nicht jeder Tweet sollte uns gleich in aufgeregte, existenzielle Debatten stürzen. Das gilt auch nach dem Regierungswechsel, der gestern in Washington stattgefunden hat.

Um es klar zu sagen: Die Vereinigten Staaten sind unser engster Verbündeter außerhalb Europas, und ich werde alles daransetzen, dass es dabei bleibt, weil das in unserem beiderseitigen Interesse liegt, weil die enge Zusammenarbeit zwischen Europa und den USA unerlässlich für Frieden und Sicherheit weltweit ist und weil unsere Partnerschaft auch ein Motor für eine erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung ist. Meine ersten Gespräche mit Präsident Trumpund auch die Kontakte zwischen unseren Beratern weisen in diese Richtung.

Und zugleich ist doch vollkommen klar: Präsident Trumpund seine Regierung werden die Welt in den kommenden Jahren in Atem halten - in der Energie- und Klimapolitik, in der Handelspolitik, in der Außen- und Sicherheitspolitik und auf manch anderen Feldern. Das alles hat Präsident Trumpangekündigt, auch gestern noch einmal. Mit all dem können und werden wir umgehen - ohne unnötige Aufgeregtheit und Entrüstung, aber auch ohne falsches Anbiedern oder Nach-dem-Mund-Reden.

Ja, Präsident Trumpsagt "America First" und meint das auch so. Nun ist nichts Verkehrtes daran, die Interessen des eigenen Landes im Blick zu haben; das tun wir ja alle. Nur ist es eben so, dass Zusammenarbeit und Verständigung mit anderen meistens durchaus auch im eigenen Interesse liegen. Für Deutschland habe ich das schon öfter gesagt: Das größte nationale Interesse Deutschlands ist die Europäische Union.

Das führt zu dem dritten Gedanken, den ich heute mit Ihnen teilen möchte, und der wird derzeit fast stündlich wichtiger: Wir Europäer müssen aus uns selbst heraus stark sein. Wir müssen zusammenhalten, untereinander und mit Partnern weltweit. Wir müssen wettbewerbsfähiger und widerstandsfähiger werden. Dazu haben wir auch das Zeug. Als Gemeinschaft mit mehr als 450 Millionen Europäerinnen und Europäer haben wir ökonomisches Gewicht. Deutschland ist mit nur 84 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern die drittgrößte Volkswirtschaft der Welt.

Erstes Beispiel: unsere Verteidigungsfähigkeit. Dafür brauchen wir neben den höheren Verteidigungsausgaben endlich auch mehr Effizienz in Europa. Nicht eigene Goldrandlösungen in jedem einzelnen Land und Dutzende verschiedener Waffengattungen, sondern eine europäische Rüstungsindustrie, die Großprojekte gemeinsam entwickelt, so wie wir das zum Beispiel bei Kampfpanzern und -flugzeugen bereits tun. Mein Ziel ist, dass jeder europäische Beschaffer in bestehende Verträge ohne Weiteres einsteigen kann, und auch die Entwicklung von Waffen müssen Unternehmen ohne Einschränkungen gemeinsam vorantreiben können.

Zweites Beispiel: Wirtschafts- und Handelspolitik. Abschottung kostet Wohlstand. Wir werden den freien Handel als Grundlage unseres Wohlstands auch gemeinsam mit anderen Partnern verteidigen. Darüber beraten wir mit EU-Partnern und mit der Europäischen Kommission, und schon morgen spreche ich mit Emmanuel Macron in Paris darüber.

Europa setzt auf freien, fairen Welthandel, und wir sind damit nicht allein. Dass die Verhandlungen zwischen der EU und den Staaten des MERCOSUR über ein Freihandelsabkommen nun nach 25 Jahren endlich zum Abschluss gekommen sind, unterstreicht diese Botschaft, genauso wie der politische Abschluss des modernisierten Abkommens mit Mexiko vom vergangenen Freitag - ein Erfolg für Europa und für Mexiko. Denn weniger Zölle, das bedeutet mehr Handel, mehr Wettbewerb und niedrigere Preise.

Apropos Wettbewerb: Europa und Deutschland müssen sich ins Zeug legen, um wettbewerbsfähiger zu werden, und zwar nicht allein als Reaktion auf Entwicklungen in China oder die Präsidentschaftswahl in den USA, sondern weil die Welt und die Globalisierung insgesamt sich tiefgreifend verändert haben. In allen Teilen der Welt - in Asien, in Afrika und im Süden Amerikas - sind ernstzunehmende Wettbewerber entstanden.

Das heißt nicht, dass wir in einen Unterbietungswettbewerb einsteigen, nach dem Motto: Wer zahlt die niedrigsten Löhne und wer hat die niedrigsten Umwelt- oder Sozialstandards? Aber wenn wir als Europäerinnen und Europäer unseren Wohlstand unter diesen veränderten Vorzeichen erhalten wollen, dann müssen wir vor allem technologischen Vorsprung halten und in Teilen neu begründen.

Quantentechnologie, Halbleiter, Pharma, Bio- und Klimatechnologien: Das sind Schlüssel­technologien und Branchen, die ein Industrieland wie Deutschland braucht und die auch ein souveränes Europa braucht. Darauf muss und wird die Europäische Union ihre Politik in den kommenden Jahren noch stärker ausrichten - vom Wettbewerbs- und Beihilferecht über die Industrie- und Finanzpolitik bis hin zu einem modernen Einwanderungsrecht. All das gehört zusammen, wenn wir neues Wachstum in Europa begründen wollen.

Und das ist möglich; da bin ich mir mit Emmanuel Macron und vielen anderen einig, auch mit Kommissionspräsidentin von der Leyen. Unsere Unternehmen brauchen bessere Finanzierungsmöglichkeiten und Kapital für Investitionen. Viele Banken und internationale Finanzinvestoren stehen bereit, aber sie scheitern häufig an national organisierten Kapitalmärkten in Europa. Wichtig sind daher jetzt substanzielle Fortschritte bei der Vertiefung der Kapitalmarktunion. Das ist nicht irgendein randständiges Expertenthema, sondern das ist von entscheidender Bedeutung für die Zukunft unserer Wettbewerbsfähigkeit, ja für die Zukunft Europas.

Zum Thema Wettbewerbsfähigkeit gehört auch, dass die EU übermäßige Bürokratie und Regulierung abbaut. Das hat die Europäische Kommission versprochen, und das werden wir als zentrale Aufgabe von der neuen Kommission einfordern.

Nur ein Beispiel: Die E-Mobilität ist die Zukunft; daran besteht kein Zweifel. Wer anderes suggeriert, der schadet unserer Industrie. Aber schädlich ist es eben auch, wenn europäische Autobauer Strafen an Brüssel zahlen müssen, anstatt diese Gelder in saubere Mobilität zu investieren. Das hilft niemandem, am wenigsten dem Klima.

Was wir brauchen, sind pragmatische Lösungen, keine ideologischen. Und deshalb freue ich mich, dass die Kommissionspräsidentin meinen Vorschlag europaweit harmonisierter Kaufprämien für E-Autos inzwischen aufgenommen hat. Unser Anspruch in Europa muss sein: Wir machen uns selbst besser.

Dafür ist es ganz entscheidend, dass auch Deutschland als größte Volkswirtschaft der Europäischen Union jetzt weiter massiv in die Zukunft investiert. Dabei denke ich zuallererst an private Unternehmen, kleine wie große. Die will ich unterstützen mit einem unbürokratischen "Made in Germany"-Bonus für Investitionen - schnell, einfach und pragmatisch. Mit zehn Prozent soll sich der Staat an jeder Ausrüstungsinvestition in Deutschland beteiligen, mit einer Steuergutschrift - ohne aufwendige Anträge und ohne dass Bürokraten den Daumen über neue Geschäftsideen heben oder senken, von denen sie doch viel weniger verstehen als die Unternehmen selbst, die ja auch das ganze Risiko tragen.

Investitionen in neue Technologien, Geräte und Maschinen sind das eine. Das andere sind Investitionen in unsere Substanz - in Straßen, Schienen und Brücken. Für Investitionen in Strom- und Wärmenetze, neue Häuser und Wohnungen habe ich unter anderem einen Deutschlandfonds vorgeschlagen, für den neben öffentlichem auch privates Kapital mobilisiert werden soll.

Wenn es ein Industrieland auf der Welt gibt, das kraftvoll in die Zukunft investieren kann, dann ist das Deutschland. Die Staatsverschuldung aller anderen G7-Staaten liegt über 100 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, teilweise sehr deutlich - die Staatsverschuldung Deutschlands sinkt Richtung 60 Prozent. Deshalb bin ich für eine kluge und zielgerichtete Veränderung der Schuldenregel in der deutschen Verfassung. Und das ist ja nicht nur meine Idee, das fordern viele Expertinnen und Experten schon seit Jahren, auch viele hier im Raum. Der IWF und der schon zitierte Nobelpreisträger, Unternehmensverbände, Gewerkschaften, alle raten uns Deutschen dringend zu mehr Investitionen in Verteidigung, in Infrastruktur, in Verkehrsinfrastruktur und in Bildung, in sichere und bezahlbare, saubere Energie. Solche Investitionen schaffen Wachstum, nicht nur für ein paar Monate, sondern auf Jahre hinaus. Sie sichern Wohlstand für die kommenden Jahrzehnte.

Meine Damen und Herren, ich weiß, auch viele von Ihnen haben das Gefühl, dass wir stärker als früher einstehen müssen für unsere Überzeugungen, für unsere Werte und für unseren Wohlstand. Dazu möchte ich Sie und uns alle heute ermutigen. Standfest in unseren Prinzipien, gelassen in den allzu aufgeregten Debatten, pragmatisch im Handeln, eng verbunden mit alten und neuen Partnern - so kommen wir durch diese schwierige Zeit.

Schönen Dank.