Westfälische Wilhelms-Universität Münster

11/05/2025 | Press release | Distributed by Public on 11/05/2025 02:19

Für oder gegen Präsenz? Drei Meinungen

Zu einer Universität und zum Studium gehören Hörsäle. Die Teilnehmendenzahlen in Veranstaltungen nehmen derzeit aber ab. © Uni MS - Johannes Wulf

Für oder gegen Präsenz? Drei Meinungen

In Gastbeiträgen kommen Studierende, Lehrende und die Uni-Leitung zur Anwesenheitspflicht zu Wort

Um das Thema Anwesenheit an Hochschulen sinnvoll zu diskutieren, braucht es die Perpektiven aller Beteiligten. In Gastbeiträgen schildern eine Professorin, die Vorsitzenden des AStA sowie die Prorektorin für Lehre und Studium ihre Meinungen.

Stell Dir vor, es ist Uni - und keine/r geht hin!

Studierende, die Kinder versorgen, chronisch krank sind, Angehörige pflegen oder sich ihren Lebensunterhalt verdienen müssen: Es gibt viele gute Gründe, für Flexibilität im Studium zu plädieren. Auch das Recht zur studentischen Selbstbestimmung zählt dazu; schließlich richtet sich das Bildungsangebot von Hochschulen an eigenverantwortliche Erwachsene.

Historikerin Prof. Dr. Carla Meyer-Schlenkrich © Kalle Kröger

Aber: Der politisch aufgeladene Diskurs über ein "empowerment" der Studierenden, den ich in meiner Studienzeit als Fachschaftsmitglied voll unterstützt hätte, verdeckt, wie sehr die Entpflichtung von der Anwesenheit die Lehre inzwischen beeinträchtigt. Vor allem seit der Coronapandemie hat die Präsenz spürbar abgenommen. Medial wird diese Entwicklung eher verstärkt als kritisiert, etwa mit einer Schlagzeile wie "Dabei sein ist für Studierende nicht alles". Fatal erscheint mir dabei die Botschaft, dass Anwesenheit in der Uni nicht nötig sei. Das Recht zu fehlen gilt zunehmend als Einladung, nur nach Bedarf zu kommen, ja sogar aus vermeintlicher Effizienz mehrere Veranstaltungen zeitgleich zu belegen. Erleichtert werden solche Entscheidungen durch den wachsenden Konsens unter Studierenden, dieses Verhalten als lässliche Sünde zu betrachten.

Erstaunlich leise wird dagegen artikuliert, welche Folgen diese Haltung für das Lehren und Lernen an den Universitäten hat:

Der Lernerfolg leidet. Die meisten Universitäten sind auf Präsenz ausgelegt, anders als im Fernstudium fehlen Materialien und Feedback-Strukturen für das Lernen zu Hause. Das Gelingen solcher Veranstaltungen liegt eben nicht allein bei den Dozentinnen und Dozenten. Nur, wenn auch die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sich für die Kurse engagieren, kann ein motivierendes Arbeitsklima für alle entstehen. Anwesenheit im Studium hat auch eine psychologische Dimension: Immer mehr Studierende leiden unter Prokrastination, so sehr, dass sie einen Studienabbruch erwägen. Bestes Gegenmittel sind feste Strukturen.Weniger Anwesenheit führt dazu, dass Hochschulen auf extrinsische Anreize setzen, also auf mehr Leistungsverpflichtungen. Eine wachsende Verschulung des Studiums ist jedoch für niemanden sinnvoll.

Es darf keine Option sein, nur noch die "happy few", die wenigen Motivierten zu unterrichten, während der Rest fehlt. Wichtig ist, dass wir zusammen dafür werben - Lehrende wie Studierende -, hinzugehen und teilzuhaben, wenn Universität stattfindet. Andernfalls wird es den Steuerzahlern auf Dauer schwer zu vermitteln sein, warum sie uns den teuren Ort für den Austausch in Präsenz finanzieren sollen.

Prof. Dr. Carla Meyer-Schlenkrich, Historisches Seminar der Universität Münster

An der studentischen Realität vorbei

Das Thema Anwesenheitspflicht geistert im universitären Alltag immer wieder herum. Sei es als Schreckgespenst für Studierende oder als Allheilmittel gegen leere Seminarräume. Dabei ist egal, ob es tatsächliche Bemühungen zur Einführung gibt.

Leon Lederer, Laurenz Schulz, Helena Eckhardt und Lisa-Nicole Bücker (v. l.), Vorsitzende des Allgemeinen Studierendenausschusses Münster © privat

Klar ist aber, Anwesenheitspflichten gehen schlicht an der studentischen Realität vorbei. Die Gründe dafür sind genauso vielfältig wie die Studierenden selbst. Sich einzig und prioritär auf das Studium konzentrieren zu können, ist ein Privileg, das bei Weitem nicht allen Studierenden zukommt. Studierende übernehmen Care-Arbeit, pflegen Familienangehörige oder kümmern sich um eigene Kinder. Chronische Erkrankungen, Behinderungen und psychische Belastungen stellen weitere Herausforderungen dar, die mit starren Anwesenheitspflichten kollidieren. Hohe Lebenshaltungskosten zwingen viele Studierende zudem, neben dem Studium zu arbeiten. BAföG erreicht einen zu geringen Kreis an Empfängerinnen und Empfängern und reicht bei Weitem nicht aus, um den Bedarf zu decken.

Die prekäre Wohnsituation in Münster verstärkt nicht nur finanzielle Probleme, sondern zwingt viele zum Pendeln. Lange Wege machen das Präsenzstudium jedoch unattraktiv bis unmöglich. Analog lassen sich diese Gründe auch darauf übertragen, warum Studierende aktuell nicht an Lehrveranstaltungen teilnehmen. Nur selten stecken böswillige Absichten oder mangelnder Respekt gegenüber den Lehrkräften dahinter.

Eine geringe Teilnehmerzahl kann aber durchaus auch Ausdruck berechtigter Kritik an der didaktischen Gestaltung der Lehre sein. Es lohnt sich also, die Diskussion zum Anlass zu nehmen, um mit allen Beteiligten die Qualität der Lehre an unserer Uni zu evaluieren und zu verbessern. Dabei müssen wir uns als Studierende gegenseitig genauso in die Verantwortung nehmen wie die Lehrenden. Gemeinsam müssen wir daran arbeiten, dass Lehren und Lernen mehr bedeutet als mechanisches Vortragen und stumpfes Auswendiglernen. Bereichernde Lehrveranstaltungen leben von lebendigen und kritischen Diskussionen, kreativem Denken, aktivem Mitgestalten und Kommunikation auf Augenhöhe. Studierende müssen als gleichwertige Gesprächspartnerinnen und -partner ernst genommen werden.

An einigen Stellen unserer Universität wurde dieser Prozess bereits erfolgreich angestoßen. Wenn es gelingt, diese Qualitätsentwicklung flächendeckend zu etablieren und hochwertige, anregende Lehre zum Standard wird, dürfte das Gespenst der Anwesenheitspflicht endlich von selbst weiterziehen.

Leon Lederer, Laurenz Schulz, Helena Eckhardt und Lisa-Nicole Bücker (v. l.), Vorsitzende des Allgemeinen Studierendenausschusses Münster

Präsenz als gemeinsames Anliegen - jenseits der Pflicht

Die Universität Münster steht für Austausch, gemeinsames Lernen und das Zusammenkommen als Gemeinschaft. Wir beobachten aber mittlerweile mit Sorge, dass die Präsenz in Lehrveranstaltungen und somit die direkte Begegnung zwischen Lehrenden und Lernenden abnimmt. Das steht im Widerspruch zu unserem Selbstverständnis als Präsenzuniversität, zu dem wir uns in unserem Leitbild Studium und Lehre bekannt haben.

Prof. Dr. Ulrike Weyland, Prorektorin für Studium und Lehre © Christoph Steinweg

Zwar besteht beispielsweise bei Praktika oder Laborveranstaltungen weiterhin eine Pflicht zur Anwesenheit, doch im überwiegenden Teil der Lehre wurde die Anwesenheitspflicht aufgehoben. Seither ist physische Präsenz Ausdruck einer bewussten Entscheidung. Das schafft Freiräume, verändert aber den Charakter universitärer Lehre.

Präsenzveranstaltungen konkurrieren zunehmend mit oft zeitlich flexibleren digitalen Alternativen. Gleichzeitig stellt sich vielen Lehrenden die Frage, wie Lehre als gemeinsamer Prozess gestaltbar ist, wenn der direkte Kontakt abnimmt. Dabei geht es nicht nur um Wissensvermittlung beziehungsweise den Erwerb von Wissen, sondern um die Rolle der Universität als sozialer Raum: als Ort der Begegnung, des gemeinsamen Denkens und der akademischen Sozialisation. Deshalb rücken bei dem aktuellen Diskurs diese Aspekte wieder ins Zentrum der Debatte über den Bildungsauftrag der Hochschule.

Gute Lehre braucht fundierte Vorbereitung und aktive Beteiligung. Präsenz ist kein Selbstzweck, aber sie ermöglicht Gespräche und kritische Nachfragen. Auch darin entfaltet sich akademisches Leben. Die Hochschulleitung möchte der aktuellen Entwicklung nicht mit einer Rückkehr zur Pflicht begegnen, sondern mit einem gemeinsamen Verständnis: Studierende wie Lehrende tragen Verantwortung dafür, dass Universität eine lebendige und auf Dialog ausgerichtete Gemeinschaft bleibt.

Die Studierenden sollten dabei ihre Rolle als Mitgestalter bewusst annehmen: Wer anwesend ist, bringt Fragen und Perspektiven ein. Lehrende sollten wiederum ihre Präsenzangebote so gestalten, dass sie als bereichernd und relevant erlebt werden. Beides stärkt die Bereitschaft aller, Universität in Präsenz zu leben.

Als Hochschulleitung wollen wir uns gemeinsam auf diesen Weg begeben. In mehreren Workshops mit Studierenden sind wir den Gründen des Fernbleibens nachgegangen. Denn wir wollen selbstverständlich auch ihre Perspektiven und Erfahrungen einbeziehen. Unsere Universität lebt vom Miteinander: sichtbar, erlebbar, erfahrbar - im besten Sinne präsent.

Prof. Dr. Ulrike Weyland, Prorektorin für Studium und Lehre

Dieser Artikel ist Teil einer Themenseite zur Anwesenheitspflicht und stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 7, 5. November 2025.

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