University of Bern

12/03/2025 | Press release | Distributed by Public on 12/03/2025 10:08

Keine Hinweise auf sterile Neutrinos

Neutrinos sind winzige Elementarteilchen, die schon in der Frühphase des Universums eine wichtige Rolle spielten. Obwohl sie zu den häufigsten Teilchen im Universum gehören, zählen sie zugleich zu den geheimnisvollsten. Denn Neutrinos interagieren nur selten mit anderer Materie - weshalb man sie auch «Geisterteilchen» nennt. Zur Physik der Neutrinos sind noch grundlegende Fragen ungeklärt - etwa wie sie ihre Masse erhalten und welche Rolle sie dabei spielen, dass es im Universum mehr Materie als Antimaterie gibt. Ihre Existenz ist seit einigen Jahrzehnten bekannt und drei Neutrino-Arten spielten eine wichtige Rolle beim Aufbau des sogenannten Standardmodells der Teilchenphysik, auch «Weltformel» genannt. Dieses Modell bietet eine Erklärung des Universums und beschreibt die kleinsten Bausteine der Materie und ihre Wechselwirkungen. Frühere Experimente zeigten allerdings unerwartete Messergebnisse, die sich nicht mit dem bisherigen Verständnis der Neutrinos erklären lassen. Um diese Anomalien zu begründen, vermuten Forschende die Existenz einer bislang unentdeckten vierten Neutrinoart - der sterilen Neutrinos.

Neue Ergebnisse des sogenannten MicroBooNE-Experiments am Teilchenphysik-Forschungszentrum Fermi National Accelerator Laboratory (Fermilab) nahe Chicago (USA) schliessen diese Möglichkeit nun aber nach mehrjähriger Suche mit grosser Wahrscheinlichkeit aus: Die Forschungsgruppe mit Beteiligung von Forschenden des Laboratoriums für Hochenergiephysik (LHEP) und des Albert Einstein Center for Fundamental Physics (AEC) der Universität Bern hat keine Hinweise auf eine vierte Art von Neutrinos gefunden. Die Ergebnisse wurden heute in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.

Das rätselhafte Neutrino-Teilchen

Neutrinos stehen seit langem im Fokus intensiver Forschung. Sie entstehen an vielen Orten - etwa in der Sonne, in der Atmosphäre, in Kernreaktoren oder in Teilchenbeschleunigern. Da sie jedoch nur selten mit anderer Materie wechselwirken, sind sie schwer nachzuweisen und werden deshalb oft als «Geisterteilchen» bezeichnet. Mit speziellen Teilchendetektoren lassen sie sich dennoch indirekt sichtbar machen und untersuchen.

Neutrinos können zwischen ihren drei Arten - Elektron-, Myon- und Tau-Neutrinos - auf besondere Weise hin- und herwechseln, was als «Neutrino-Oszillation» bezeichnet wird. In den 1990er-Jahren zeigte ein Experiment in den USA bei der Untersuchung von Neutrino-Oszillationen mehr Teilchenwechselwirkungen als theoretisch vorhergesagt. Eine populäre Erklärung für dieses ungewöhnliche Ergebnis war die Annahme einer vierten Neutrino-Art, den sogenannten sterilen Neutrinos. Dieses hypothetische Teilchen wäre jedoch noch schwerer nachweisbar als seine bekannten «Verwandten» und würde lediglich auf die Schwerkraft reagieren. «Mit der damals verfügbaren Detektortechnologie waren Neutrinos jedoch weniger zuverlässig messbar. Aus diesem Grund entstand 2007 die Idee für das MicroBooNE-Experiment», sagt Michele Weber, Direktor des Laboratoriums für Hochenergiephysik (LHEP) und ehemaliger wissenschaftlicher Leiter des MicroBooNE-Experiments.

Präzisionsmessungen mit dem Berner Flüssig-Argon-Detektor

Der Detektor MicroBooNE war von 2015 bis 2021 im Booster Neutrino Beam (BNB) am Fermilab im Einsatz, um die Existenz von sterilen Neutrinos zu testen. Der Detektor befindet sich in einem 12 Meter langen zylindrischen Behälter, der mit 170 Tonnen reinem flüssigen Argon befüllt ist. Der Detektor nutzte zusätzlich den NuMI-Strahl am Fermilab. Diese doppelte Strahlenquelle ermöglichte es den Forschenden, die Unsicherheiten in ihren Messungen zu verringern und nahezu den gesamten Bereich auszuschliessen, in dem sich ein einzelnes steriles Neutrino verstecken könnte. Dank des Detektors konnte die MicroBooNE-Kollaboration, bestehend aus Forschenden von 40 Institutionen aus sechs unterschiedlichen Ländern, hochpräzise 3D-Bilder von Neutrinoereignissen aufnehmen und die Wechselwirkungen im Detail untersuchen. «Die Technologie mit Flüssig-Argon wurde hier an der Universität Bern mitentwickelt. Zeitweise waren rund zehn Forschende des Laboratoriums für Hochenergiephysik und des Albert Einstein Center for Fundamental Physics (AEC) an der Kollaboration beteiligt und haben bei der Entwicklung und dem Bau des Detektors mitgearbeitet», erklärt Weber.

Keine Spur von sterilen Neutrinos

Die neusten Resultate von MicroBooNE wurden nun veröffentlicht und zeigen keine Hinweise auf sterile Neutrinos. Die Ergebnisse entsprechend damit den Resultaten des MicroBooNE-Experiments aus dem Jahr 2021. Mit diesem neuen Ergebnis konnte MicroBooNE mit 95-prozentiger Sicherheit eine Erklärung der Anomalien in früheren Experimenten durch ein einziges steriles Neutrino ausschliessen. «Eine Entdeckung ist natürlich immer spannender, aber die Ergebnisse sind damit nicht weniger aussagekräftig oder bedeutsam. Sie zeigen, wozu moderne Neutrino-Detektoren heute in der Lage sind, und beantworten definitiv eine fundamentale Frage in der Physik», erklärt Weber. «Die Ergebnisse werden die Physikerinnen und Physiker dazu motivieren, nach möglichen weiteren Erklärungen für die Anomalien zu suchen», so Weber weiter.

Weitere Neutrino-Forschung

Das MicroBooNE-Experiment hat nicht nur zur Klärung dieses Neutrinorätsels beigetragen, sondern auch wertvolle Einblicke in die Interaktionen von Neutrinos in flüssigem Argon geliefert. Diese Erkenntnisse sind entscheidend für zukünftige Experimente wie das Deep Underground Neutrino Experiment DUNE am Fermilab an dem mehr als 1'400 Forschende aus über 200 Instituten weltweit beteiligt sind und bei welchem dieselbe Flüssig-Argon-Technologie eingesetzt wird. DUNE ist das weltweit umfassendste Neutrino-Experiment. Die Forschenden der Universität Bern steuern die Hauptkomponente des sogenannten «near detectors» bei, der Neutrinos unmittelbar nach ihrer Entstehung nachweisen soll.

MicroBooNE hat unter anderem aus der Schweiz Finanzierung vom Schweizerischen Nationalfond und dem Albert Einstein Center for Fundamental Physics erhalten.

Angaben zur Publikation:

Abratenko, P. et al. (2025). Search for light sterile neutrinos with two neutrino beams at MicroBooNE. Nature.
URL: https://www.nature.com/articles/s41586-025-09757-7
DOI: 10.1038/s41586-025-09757-7

Fermilab und die Universität Bern

Zwischen Fermilab und der Universität Bern besteht seit 2019 eine Vereinbarung über die Zusammenarbeit bei Neutrino-Experimenten. Es ist das erste Abkommen zwischen einer Schweizer Universität und Fermilab, einem der weltweit führenden Labors für Teilchenphysik.
Der Beitrag der Universität Bern an der wissenschaftlichen Zusammenarbeit umfasst drei Projekte: MicroBooNE, SBND und das Deep Underground Neutrino Experiment (DUNE), das als das ultimative Neutrino-Observatorium der Welt gilt.

Mehr zur Zusammenarbeit zwischen Fermilab und der Universität Bern

Albert Einstein Center for Fundamental Physics

Das Albert Einstein Center for Fundamental Physics (AEC) wurde 2011 gegründet. Sein Ziel ist es, Forschung und Lehre in der Grundlagenphysik an der Universität Bern auf höchster Ebene zu fördern. Der Schwerpunkt liegt auf der experimentellen und theoretischen Teilchenphysik und ihren Anwendungen (z.B. Medizinphysik), sowie auf den damit verbundenen Spin-off- und Outreach-Aktivitäten.

Das AEC wurde unter Mitwirkung des Instituts für Theoretische Physik (ITP) und des Labors für Hochenergiephysik (LHEP) der Universität Bern gegründet. Mit seinen über 100 Mitgliedern ist das AEC eine der grössten universitären Gruppen von Forschenden, die in der Schweiz auf dem Gebiet der Teilchenphysik arbeiten, und ein starker Akteur auf internationaler Ebene.

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Das Laboratorium für Hochenergiephysik (LHEP)

Das Laboratorium für Hochenergiephysik (LHEP) ist eine Abteilung des Physikalischen Instituts der Universität Bern und gehört zum Albert Einstein Center for Fundamental Physics (AEC). Es forscht im Gebiet der experimentellen Teilchenphysik.

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