Westfälische Wilhelms-Universität Münster

11/05/2025 | Press release | Distributed by Public on 11/05/2025 02:19

Streitpunkt Anwesenheit: Wie hat sich die Lehre an Hochschulen entwickelt

Bleiben oder gehen: Studierenden haben in vielen Fällen die Wahl, ob sie eine Veranstaltung besuchen. © Uni MS - Linus Peikenkamp

Streitpunkt Anwesenheit: Wie hat sich die Lehre an Hochschulen entwickelt?

In einem Gastbeitrag blickt Jürgen Overhoff aus bildungshistorischer Perspektive zurück

Die derzeit wieder heiß diskutierte Anwesenheitspflicht für Studierende ist in der vielhundertjährigen Geschichte der Universitäten eine erstaunlich späte Erscheinung gewesen. Denn in dem langen Zeitraum vom Hohen Mittelalter (damals entstanden um 1200 die ersten Universitäten in Paris, Oxford und Cambridge) bis zum Zeitalter der Aufklärung konnte kein Student von seinen Professoren und Dozenten dazu wirkungsvoll genötigt werden, gegen seinen ausdrücklichen Wunsch im Seminarraum oder Hörsaal zu erscheinen. Wer immatrikuliert war, hatte sich freiwillig für das Studium entschieden - und folglich stand es allein in der Verantwortung des Immatrikulierten, an einer Veranstaltung teilzunehmen oder nicht.

Auch weil Prüfungen und akademische Abschlüsse bis zum Ende des 18. Jahrhunderts nicht die Regel waren, fand jeder für sich selbst heraus, bei welchem Dozenten er wann und wie lange hören wollte. Der Königsberger Professor Immanuel Kant, der ein begnadeter Vortragender war, hatte in seinen Vorlesungen immer ein volles Haus. Die Studierenden kamen gerne und regelmäßig zu ihm. Eine Generation nach ihm lehrte in Berlin der Philosoph Arthur Schopenhauer. Er galt als schwierig und unverständlich - und so stimmten seine Studenten mit den Füßen ab und blieben seinen gedankenschweren Vorträgen fern. Schopenhauer ärgerte sich, konnte aber nichts dagegen tun.

Bildungshistoriker Prof. Dr. Jürgen Overhoff © Uni MS - Heiner Witte

Erst seit der Mitte des 19. Jahrhunderts änderten sich diese Verhältnisse. Der Staat legte nun immer stärkeren Wert auf Prüfungen und Abschlüsse - als Mittel der Leistungskontrolle und auch, um nicht leichtfertig wichtige Ressourcen zu verschleudern. Wenn zum Teil üppige staatliche Gelder für den Unterhalt der Universitäten ausgegeben wurden, dann sollten diejenigen, die sich dort aufhielten, auch verlässlich zu produktiven Leistungsträgern der Gesellschaft herangebildet werden. Spätestens nachdem das Abitur im Jahr 1834 als verbindliche Qualifikation eingeführt worden war, ohne die ein Universitätsstudium gar nicht mehr absolviert werden konnte, erwarteten die Professoren die Anwesenheit der Studierenden. Jedenfalls galt nun immer häufiger: Wer nicht im Seminar erschien, der durfte nicht darauf hoffen, dass er die immer wichtiger werdende Abschlussprüfung bestehen würde.

Genau in dieser Zeit, als die Universitäten eine Anwesenheit der Studierenden immer nachdrücklicher einzufordern begannen, wurde als Reaktion darauf ein neues Studienmodell erprobt: Die Idee der Fernuniversität kam auf. Pionierinstitution in dieser Hinsicht war die University of London. Da sich nicht alle studierfähigen jungen Engländer einen Aufenthalt im teuren London leisten konnten, bot die dortige Hochschulleitung allen weniger gut betuchten und fernab der britischen Hauptstadt lebenden Studenten an, weite Teile ihres Studiums in absentia absolvieren zu dürfen. 1865 wurde das "distance learning" ein hochoffizieller Bestandteil des breitgefächerten Angebotes der Londoner Universität. Doch blieb diese bedeutende Reform in der britischen Hochschullandschaft - und auch in der übrigen Welt der europäischen und nordamerikanischen Universitäten - die Ausnahme von der Regel. Niemandem wäre es beispielsweise eingefallen, auch die ehrwürdigen Universitäten Oxford und Cambridge zu Fernuniversitäten zu machen. Einen Abschluss konnte ein fleißiger Student aus der Ferne zwar nachweislich erwerben, doch überdurchschnittlich gute Leistungen blieben laut Mehrheitsmeinung und gemäß der Einschätzung der Experten an Präsenz und Anwesenheit geknüpft.

Auch im 20. Jahrhundert, als selbst in Deutschland der Gedanke eines Fernstudiums Anhänger fand und im Jahr 1974 die Fernuniversität Hagen gegründet wurde, wandelte sich die inzwischen fest etablierte Einstellung zur prinzipiellen Bedeutung einer kontinuierlichen Anwesenheit in den Seminaren nicht. Im Gegenteil: In dieser bemerkenswerten Phase der Bildungsexpansion, als in Duisburg, Essen, Paderborn, Siegen und Wuppertal sogar neue Gesamthochschulen gegründet wurden, war das Präsenzstudium mit Anwesenheitspflicht der Normalzustand. Dabei galt: Wer mehr als dreimal im Verlauf eines Semesters fehlte, konnte ein Seminar nicht erfolgreich abschließen. Während in Münster noch um 1800 die Studenten ohne Anwesenheitspflicht studiert hatten (bei einer Gesamtzahl von rund 300 Studenten), waren Ende der 1970er-Jahre am selben Ort schon weit über 30.000 männliche und weibliche Studierende immatrikuliert, die alle um ihre Pflicht wussten, in den Seminaren Präsenz zu zeigen.

Erst im 21. Jahrhundert wurde die Anwesenheitspflicht, die sich im Verlauf der beiden vorausgegangenen Jahrhunderte sukzessive durchgesetzt hatte, im Land Nordrhein-Westfalen unvermutet wieder abgeschafft. Seit dem Jahr 2014 dürfen die Studierenden von ihren Veranstaltungen so häufig fernbleiben wie sie wollen - von wenigen Ausnahmen in den Naturwissenschaften wie etwa Laborpraktika abgesehen. Da digitale Kursmanagementsysteme und Lernplattformen den Studierenden das studienbegleitende Material auch außerhalb des Seminarraums zur Verfügung stellen, machen immer mehr Studierende von dieser Möglichkeit Gebrauch. Das hat nun speziell im vergangenen Sommersemester dazu geführt, dass verschwindend wenig Teilnehmerinnen und Teilnehmer die Seminare und Vorlesungen besuchten. Diesen Zustand empfinden vor allem die Lehrenden als äußerst unbefriedigend. Denn was vor zehn Jahren noch als Mittel zur Flexibilisierung des Studiums gedacht war, um neue Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Job und Seminarbesuch zu eröffnen, erweist sich nun als die Ursache dafür, dass "distance learning" und andere Praktiken des Fernstudiums womöglich zum Normalfall werden. Da aber diese Entwicklung so gar nicht beabsichtigt war und wohl auch in Zukunft von niemandem ernsthaft in dieser Form gewollt sein kann, ist es jetzt offenkundig an der Zeit, mit Verstand und Augenmaß gegenzusteuern.

Dr. Jürgen Overhoff ist Professor für Erziehungswissenschaft mit dem Schwerpunkt der historischen Bildungsforschung.

Dieser Artikel ist Teil einer Themenseite zur Anwesenheitspflicht und stammt aus der Unizeitung wissen|leben Nr. 7, 5. November 2025.

Links zu dieser Meldung

  • Die November-Ausgabe der Unizeitung als PDF
  • Alle Ausgaben der Unizeitung auf einen Blick.
Westfälische Wilhelms-Universität Münster published this content on November 05, 2025, and is solely responsible for the information contained herein. Distributed via Public Technologies (PUBT), unedited and unaltered, on November 05, 2025 at 08:19 UTC. If you believe the information included in the content is inaccurate or outdated and requires editing or removal, please contact us at [email protected]