09/20/2025 | Press release | Distributed by Public on 09/20/2025 02:30
Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki schrieb für "Cicero Online" folgende Kolumne:
Im April dieses Jahres saß Charlie Kirk im Podcast des US-amerikanischen Late-Night-Komikers Bill Maher - eine Konstellation, die auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein könnte. Auf der einen Seite ein erzkonservativer, evangelikaler Christ, der Abstinenz und Enthaltsamkeit propagiert. Auf der anderen Seite der linksliberale Atheist, der während des Gesprächs mehrere hochprozentige Drinks mixt und immer wieder an seiner Cannabis-Zigarette zieht. So groß die inhaltlichen und persönlichen Unterschiede der Protagonisten dieser höchst ungewöhnlichen Szenerie auch sein mögen - in einem Punkt waren sich beide einig: im Umgang mit der anderen Meinung, dem jeweils anderen Lager.
Maher und Kirk haben es sich in den letzten Jahren gewissermaßen zur Marke gemacht, den Dialog über politische Lagergrenzen hinweg zu suchen. Kirk auf seinen Uni-Touren - auf einer solchen verlor er durch das abscheuliche Attentat in der vergangenen Woche sein Leben. Maher in seiner Late-Night-Show, in der er immer wieder auch erzkonservative Akteure einlädt und keine politische Seite schont - obwohl er betont, Kamala Harris gewählt zu haben. Die Grundlage für ein launiges und durchweg freundliches Gespräch, in dem insbesondere beim Thema Religion völlig unterschiedliche Standpunkte ausgetauscht wurden.
Diese Szene spiegelt das Idealbild einer freien und zivilisierten Debatte wider. Ein Idealbild, das einst auch in der Bundesrepublik als vorbildlich galt. Als geradezu ikonisch gilt das Bild des großen Liberalen Ralf Dahrendorf, der sich 1968 am Rande eines FDP-Bundesparteitags auf dem Dach eines VW-Käfers einer intensiven Debatte mit dem marxistischen Studentenführer Rudi Dutschke stellte. Bemerkenswert daran ist vor allem, dass der konkrete Inhalt der Debatte gar nicht überliefert ist. Doch das starke Bild zweier so unterschiedlicher Diskutanten hat die Zeit überdauert - als Symbol für die friedliche Auseinandersetzung in einer polarisierten und aufgeheizten gesellschaftlichen Konfrontation. Eine Auseinandersetzung, die in den Folgejahren leider zunehmend von jenen in Gewalt überführt wurde, die von zivilisiertem Streit nichts halten: der linksextremistische RAF-Terror und das rechtsextrem motivierte Attentat auf Dutschke selbst stehen für diese Exzesse. Sie haben zweifellos tiefe Narben in der bundesrepublikanischen Identität hinterlassen.
Natürlich ist das Leben kein Debattierclub, und nicht jeder ist in politischer Theorie so sattelfest, dass er auf dem nächstbesten Autodach über das Für und Wider der Gesellschaftsordnung diskutieren kann. Dennoch ist das schonungslose Aufeinanderprallen unterschiedlicher Meinungen zur geistigen Auseinandersetzung keine liberale Romantik. Es ist vielmehr die Kern-DNA jeder aufgeklärten und freien Zivilisation - wie es Deutschland und die USA sein wollen und sein müssen, wenn sie sich nicht selbst verraten wollen. Deshalb hat die Meinungsfreiheit einen zentralen Stellenwert in unserer verfassungsmäßigen Ordnung. Das Bundesverfassungsgericht zitierte bereits im berühmten "Lüth-Urteil" von 1958 die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte der französischen Nationalversammlung von 1789 und erklärte, es handle sich um "eines der vornehmsten Menschenrechte überhaupt". Sie sei für eine freiheitlich-demokratische Staatsordnung "schlechthin konstituierend, denn sie ermöglicht erst die ständige geistige Auseinandersetzung, den Kampf der Meinungen, der ihr Lebenselement ist." Unter Berufung auf den früheren US-Supreme-Court-Richter Benjamin Cardozo stellte das Gericht zudem fest, dass die Meinungsfreiheit gewissermaßen die Grundlage jeder Freiheit überhaupt sei. Die Radikalität dieser Formulierungen und die Berufung auf französische Revolution wie amerikanische Rechtstradition sind kein Zufall. Ohne Meinungsfreiheit ist keine Gesellschaft frei.
Die Frage, die uns zunehmend beunruhigen muss, lautet: Welchen Wert hat dieses Ideal in unserer heutigen Gesellschaft noch? Eine Verfassung mit einem großartigen Grundrechtekatalog zu haben, ist das eine. Etwas ganz anderes ist es, ob die darin zum Ausdruck kommenden Werte auch genügend Verteidiger und Anhänger in Gesellschaft und Politik finden. Die ernüchternde Wahrheit: Die Deutschen selbst glauben nicht mehr daran. Nur noch 40 Prozent glauben, ihre Meinung frei äußern zu können - 1990 waren es noch 78 Prozent. Und tatsächlich hat sich das gesellschaftliche Klima in Bezug auf die Toleranz gegenüber anderen Meinungen dramatisch verändert.
Ein aktuelles Beispiel ist der Fall der ARD-Journalistin Julia Ruhs, die im Auftrag des NDR und des Bayerischen Rundfunks ein neues Format pilotierte, das den Anspruch hatte, auch eine konservative oder konservativ-liberale Perspektive abzubilden. Wer die bisherigen drei Reportagen gesehen hat, findet kein schrilles oder unsachliches Format, sondern solide recherchierte Beiträge zu gesellschaftlich hochumstrittenen Themen: Migration, der Protest und Unmut der Bauern sowie die gesellschaftliche Spaltung durch Corona.
Schon die Themenwahl allein dürfte viele auf die Palme gebracht haben. Denn es gibt in Deutschland sehr laute Stimmen, die meinen, man dürfe bestimmte Themen gar nicht offen diskutieren. Offen bedeutet in diesem Zusammenhang: auch den Zusammenhang zwischen illegaler Migration und Gewaltentwicklung anzusprechen; zu fragen, ob die Bauern mit ihrem Ärger in manchen Punkten recht haben könnten; oder zu untersuchen, inwieweit die staatliche Reaktion auf die Corona-Pandemie das Land in unerträglicher und vermeidbarer Weise gespalten hat. Von "Überfrachtung mit Einzelthemen" und "Emotionalisierung" war intern beim NDR die Rede - Begründungen, mit denen die Absetzung der Journalistin schließlich erreicht wurde. Auch wurde kritisiert, die Filme seien "nicht ausgewogen" genug. Doch das Problem liegt nicht in einer subjektiven Wertung. Das Problem ist, dass man meint, daraus die Legitimation ableiten zu können, eine Journalistin abzulösen - und damit sogar Erfolg hat.
Dabei verkennen die Verantwortlichen beim NDR, wie dieser jakobinische Eifer den Diskurs zunächst vergiftet, dann verengt - und schließlich das freiheitliche Fundament unserer Gesellschaft bedroht.
Der freie Westen und seine Werte stehen erneut in einem scharfen Systemwettbewerb. Anders als im Kalten Krieg mit der Sowjetunion können wir uns heute nicht mehr allein auf wirtschaftliche Stärke verlassen - denn auch hier drohen wir zunehmend den Anschluss zu verlieren. Unsere Stärke erwächst aus unserer Freiheit - die nicht nur wirtschaftlich oder gesellschaftlich sein darf, sondern umfassend verstanden werden muss. Wenn die Meinungsfreiheit - als Fundament aller Freiheit - derart unter Druck gerät, erfüllt mich das mit tiefer Sorge über den Ausgang dieses Systemwettbewerbs.
In Deutschland löste bereits die Ankündigung des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer, sich in einer Diskussion mit dem AfD-Politiker Markus Frohnmaier auseinanderzusetzen, wütende Proteste aus - noch bevor das Gespräch überhaupt stattfand. Meldestellen für "unliebsame" Meinungen schießen aus dem Boden, und die Idee, auch nicht strafbare Meinungsäußerungen zu verfolgen, entwickelt sich unter grünen und linken Politikern zunehmend zum Konsens. In den USA rief der Vizepräsident aus seinem Amtszimmer dazu auf, Mitbürger beim Arbeitgeber zu melden, wenn sie sich unbotmäßig über die Ermordung von Charlie Kirk geäußert hätten. Und der Fall des suspendierten Komikers Jimmy Kimmel zeigt, dass es auch in den Vereinigten Staaten schlecht um das Meinungsklima bestellt ist.
Die Freiheit zu verteidigen ist keine Frage von links oder rechts, sondern eine Frage der Bereitschaft, den Andersdenkenden zu akzeptieren - und sich mit ihm in einer freien, friedlichen Auseinandersetzung zu messen. Wer das tut, verdient nicht die Verachtung, die etwa Boris Palmer für seinen Auftritt geerntet hat, sondern uneingeschränkten Respekt. Immer in dem Bewusstsein, dass man in einer Diskussion auch unterliegen kann - auch das gehört zur Freiheit dazu.
Wer das nicht versteht - wer weiter an einem Klima mitwirkt, in dem Themen tabuisiert, Podien wegen einzelner Gäste abgesagt werden oder Bürger sich nicht mehr trauen, ihre Meinung zu äußern - hat sich als Feind der Freiheit entlarvt. Er oder sie verdient den klaren, harten Widerspruch all jener, die für sich beanspruchen, die Werte der liberalen Demokratie hochzuhalten. Ein Widerspruch, der ebenfalls in freier und fairer Debatte ausgetragen werden muss.
Nicht die Feinde, sondern die Verfechter der Freiheit müssen die gesellschaftliche Debatte wieder bestimmen.
Die Freiheit unseres Gegenübers muss uns wichtiger sein als die eigene Haltung. Diesen Ansatz haben wir zunehmend verloren - und das ist gefährlich. Wir brauchen einen dringenden Kulturwandel: für die Freiheit und für das friedliche Zusammenleben in unserer Gesellschaft.