09/21/2025 | Press release | Distributed by Public on 09/21/2025 07:56
Wie politische Narrative auf Twitter/X verbreitet werden
Politische Lager spielen heute eine größere Rolle denn je, wenn es um die politische meinungsbildung geht. Wie die Studie eines Teams um Forscher des Max-Planck-Instituts für Mathematik in den Naturwissenschaften zeigt, ist in der deutschen Twittersphäreeine eine auffallend klare strukturelle Spaltung in zwei ideologische Lager zu beobachten - eines überwiegend links-liberal, das andere rechts-konservativ. Die Studie basiert auf einer großangelegten Analyse von über 19 Millionen Tweets zu täglichen Trendthemen in Deutschland zwischen 2021 und 2023. Polarisierung in der Social-Media-Forschung ist zwar kein neues Phänomen ist, die Autoren stellten aber erstmals eine ausgeprägte themenübergreifende Spaltung fest. Das bedeutet, dass sich Nutzerinnen und Nutzer über verschiedene Themen hinweg, etwa Klimawandel, Covid-19, Energie, Migration oder Vertrauen in Medien, konsequent im selben ideologischen Lager einordnen. Diese themenübergreifende Ausrichtung steht im Gegensatz zu bisherigen Umfrageergebnissen, die meist nur eine schwache oder themenspezifische Polarisierung in der öffentlichen Meinung aufzeigten.
Treiber der klaren politischen Ausrichtung sind zwei Typen besonders aktiver Nutzerinnen und Nutzer: Influencer, die weit verbreitete, ideologisch geprägte Inhalte erzeugen, und Multiplier, die vor allem als Kuratoren agieren, indem sie Inhalte retweeten, die einer bestimmten ideologischen Haltung entsprechen. Während Influencer eher traditionellen Meinungsführern wie Politikerinnen und Politikern sowie Medienschaffenden ähneln, sind Multiplier weniger sichtbar, üben aber einen großen Einfluss auf die Struktur des Online-Diskurses aus. Die Untersuchungen zeigen, dass Multiplier durch ihr intensives Retweet-Verhalten ideologisch konsistente Inhalte bündeln und verstärken und so polarisierte und gleichgerichtete Meinungscluster fördern.
Um diese Muster aufzudecken, kamen in der Studie innovative Berechnungsmethoden zum Einsatz. Ein auf maschinellem Lernen basierender Ansatz zur Themenmodellierung klassifizierte Millionen von Tweets induktiv in thematische Kategorien über Tausende von Trendthemen hinweg und erzeugte so eine hochdimensionale Karte des öffentlichen Diskurses. Die Retweet-Aktivität wurde anschließend als gerichtetes Netzwerk modelliert, wobei die Verbindungen Retweets zwischen Nutzerinnen und Nutzern darstellen. Mit Hilfe des sogenannten Stochastic-Block-Modellings - einer statistischen Methode zur Erkennung von gemeinschaftlichen Strukturen in Netzwerken - identifizierten die Forschenden für jeden Trend, ob das Retweet-Netzwerk polarisiert ist oder nicht und extrahierten die Cluster, die den gegensätzlichen ideologischen Lagern entsprechen. Letztendlich entwickelten sie eine Ausrichtungs-Kennzahl, um zu messen, wie konsistent einzelne Nutzerinnen und Nutzer über verschiedene Themen hinweg im gleichen ideologischen Lager verbleiben. Multiplier - deren Authentizität ebenfalls durch die Studie bestätigt wurde - zeigten dabei durchweg höhere Ausrichtungswerte als Influencer, was ihre Rolle bei der themenübergreifenden Bündelung politischer Inhalte unterstreicht.
Die Polarisierung beschränkt sich nicht auf einige wenige "heiße Eisen", sondern erstreckt sich über mehrere politische Bereiche. Die Analyse der 1.000 einflussreichsten Influencer und Multiplier zeigt, dass Multiplier aktiver sind und über verschiedene Themen hinweg eine stärkere ideologische Ausrichtung aufrechterhalten als Influencer. Während die meisten politischen Themen stark ausgerichtet sind, ziehen nicht-politische Themen wie Gaming und Musik durchaus sehr unterschiedliche Nutzergruppen an und bleiben nur schwach polarisiert. Ein ähnlicher Effekt der Neuorientierung zeigte sich aber auch bei Diskussionen zum Thema Ukraine, wo einige rechtsgerichtete Influencer sich von der vorherrschenden pro-russischen Haltung ihres Clusters distanzierten - ein Muster, das bei Multipliern wiederum weniger sichtbar war. Über alle Themen hinweg zeigen Multiplier durchgehend eine stärkere themenübergreifende Ausrichtung als Influencer. Die sogenannte Themen-Ausrichtungsmatrix verdeutlicht eine hohe Ausrichtung über die meisten Themen hinweg - mit Ausnahme von Musik und Gaming. Dabei zeichnen sich graduelle Unterschiede ab: Stark ausgerichtete Themen wie Covid, Journalismus und deutsche Politik stehen weniger stark ausgerichteten Themen wie Sozialpolitik gegenüber.
Die Aktivitätsmuster der Nutzerinnen und Nutzer zeigen, dass Multiplier typischerweise in mehr Trends aktiv sind, als Influencer. Betrachtet man die Größe der politischen Cluster, so stellen sich weitere Unterschiede heraus. Unter den 1000 einflussreichsten Influencern befinden sich mehrheitlich Accounts, welche dem links-liberalen Cluster angehören. Bei Multipliern beobachten wir das Gegenteil: unter den 1000 aktivsten Multipliern befinden sich mehrheitlich Accounts aus dem rechts-konservativen Cluster.
Globale und themenspezifische Cluster-Zugehörigkeit für Influencer (links) und Multiplier (rechts). Ein Zugehörigkeitswert von −1 bedeutet, einer Person dem linksgerichteten Cluster (blaue Farbe) angehört, ein Wert von +1 dem rechtsgerichteten Cluster (gelbe Farbe). Leere Zeilen in der Matrix zeigen an, dass die Person in keinem Retweet-Netzwerk zum jeweiligen Thema aktiv war. Es zeigt sich, dass Multiplier über mehr Themen hinweg aktiv sind als Influencer.
© Armin Pournaki
Die Studie betont einmal mehr, wie wichtig soziale Medien bei der Meinungsbildung sind, und unterstreicht den Bedarf weiterer Forschung zu den Mechanismen politischer Polarisierung. Die Studie weist einige Einschränkungen auf, die weitere Untersuchungen notwendig machen, etwa um die diskursiven Gründe für die themenübergreifende Ausrichtung besser zu verstehen. Die Forscher planen, dies künftig anhand gegensätzlicher Narrative zu untersuchen. Weitere Forschung ist erforderlich, um die Ausrichtung "normaler" Nutzerinnen und Nutzer zu untersuchen und herauszufinden, ob ähnliche Polarisierungsmuster auch auf anderen Social-Media-Plattformen bestehen. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine konsistente Polarisierung und themenübergreifende Ausrichtung für die Mehrheit der Nutzerinnen und Nutzer zutreffen könnten und dass besonders einflussreiche, hochaktive unter ihnen auf anderen Plattformen wie Facebook ähnliche Effekte hervorrufen könnten wie die Multiplier auf Twitter.
Die Studie wurde durch die Europäische Union im Rahmen des Horizon-Europe-Projekts "Social Media for Democracy (SoMe4)", das den Einfluss sozialer Medien auf den öffentlichen Raum und die liberale Demokratie untersucht, durch die französische Regierung, vertreten durch die Agence Nationale de Recherche im Programm "Investissements d'avenir", sowie durch die Forschungsgruppe "Digital News Dynamics" am Weizenbaum-Institut Berlin gefördert.