12/04/2025 | News release | Distributed by Public on 12/04/2025 03:58
Hannah Arendt gehört zu den bedeutendsten Philosophinnen des 20. Jahrhunderts. Als Jüdin verfolgt, floh die sie vor dem nationalsozialistischen Regime zunächst nach Frankreich, später in die USA. In zahlreichen Schriften setzte sie sich unter anderem mit totalitärer Herrschaft und den Gelingensbedingungen von Demokratie auseinander. Das Bild zeigt sie auf dem 1. Kulturkritikerkongress 1958 in München. Münchner Stadtmuseum / Barbara Niggl Radloff (CC BY-SA 4.0)
Matthias Bormuth forscht unter anderem zur Philosophie Hannah Arendts. Zudem ist er Leiter der Forschungsstelle Hannah Arendt-Zentrum und des Hannah Arendt-Archivs. Universität Oldenburg / Tobias Frick
04.12.2025 Top-Thema Philosophie
Heute vor 50 Jahren starb die Philosophin Hannah Arendt. In einem Essay schreibt der Oldenburger Philosoph Matthias Bormuth über Arendts Gedanken zum unabhängigen Denken als Voraussetzung der Demokratie.
Hannah Arendt gehört zu den bedeutendsten Philosophinnen des 20. Jahrhunderts. Als Jüdin verfolgt, floh die sie vor dem nationalsozialistischen Regime zunächst nach Frankreich, später in die USA. In zahlreichen Schriften setzte sie sich unter anderem mit totalitärer Herrschaft und den Gelingensbedingungen von Demokratie auseinander. Das Bild zeigt sie auf dem 1. Kulturkritikerkongress 1958 in München.
Matthias Bormuth forscht unter anderem zur Philosophie Hannah Arendts. Zudem ist er Leiter der Forschungsstelle Hannah Arendt-Zentrum und des Hannah Arendt-Archivs.
Heute vor 50 Jahren starb die Philosophin Hannah Arendt. In einem Essay schreibt der Oldenburger Philosoph Matthias Bormuth über Arendts Gedanken zum unabhängigen Denken als Voraussetzung der Demokratie.
Hannah Arendt (1906-1975) ist heute als demokratische Denkerin menschlicher Freiheit weltbekannt. Dabei begann die deutsche Jüdin ihre Laufbahn in der Weimarer Republik unpolitisch, als sie bei Martin Heidegger und Karl Jaspers studierte. In den kleinen Universitätsstädten Marburg und Heidelberg stellte Arendt leidenschaftlich wie gelehrt Fragen nach Dasein und Existenz des Menschen, die kaum das öffentliche Leben berührten. Das Denken blieb privat, auf den engsten Kreis persönlichen Lebens beschränkt. Ihre Dissertation Der Liebesbegriff bei Augustinus steht dafür.
Erst um 1933 entwickelte sich das politische Bewusstsein der jungen Intellektuellen in Berlin. Sie hatte mit Rahel Varnhagen die Lebensgeschichte einer deutschen Jüdin aus der Romantik historisch erforscht und plötzlich die gesellschaftliche Ausgrenzung am eigenen Leibe erfahren müssen. Arendt beendete das Buch tief ernüchtert im Pariser Exil: "Rahel ist Jüdin und Paria geblieben. […] Sie hat den jungen Heine mit Enthusiasmus und großer Freundschaft begrüßt - 'nur die Galeerensklaven kennen sich'."
Die totalitären Erfahrungen schlugen sich in der Folge in einem historisch reflektierten Denken nieder, das, so wie sie es für Rahel Varnhagen schon als Weg beschrieben hatte, der herben Wirklichkeit zu begegnen: "Was ihr zu tun verblieb, war […] das Geschehene in ein Gesagtes zu verwandeln." So verfasste sie in der amerikanischen Emigration nach dem Zweiten Weltkrieg ihr berühmtestes Werk, die Studie Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Gerade bei ihrer soziologischen Wahrnehmung gesellschaftlicher Bedrängnisse bewahrte Arendt den philosophischen Blick auf den inneren Menschen, der für sie am Anfang und am Ende allen politischen Lebens steht: "Denn die Zerstörung der Individualität ist identisch mit der Ertötung der Spontaneität".
Immer wieder kam Arendt auf Sokrates zurück
Die erstaunliche Innenwelt, von der Hannah Arendt schreibt, schenkt Freiheit. Diese liegt im unverhofften Denken und Handeln, das gegen jede Erwartung der Außenwelt erfolgen kann. Dieser Gedanke, den sie in der Aufklärung besonders bei Kant wiederfand, hat einen antiken Ursprung. Immer wieder kam Arendt deshalb auf Sokrates zurück, der im demokratischen Athen die bürgerliche Jugend ins kritische Gespräch über herrschende Wahrheiten gezogen hatte. Da er keine feste Wahrheit anerkannte, sondern überkommene Gewissheiten ironisch hinterfragte, musste seine Mission scheitern. So sah es Hannah Arendt, die weiter herausstellt, wie erschrocken der Meisterschüler Platon auf das tödliche Schicksal seines Lehrers reagiert habe, indem er sich nach einer exklusiven Schau der höheren Ideen sehnte. Die platonische Hoffnung sei gewesen, als Philosoph "absolute Maßstäbe" für das gesellschaftliche Leben setzen zu können, das heißt, mit der "Schau" der Ideen sich als staatstragende Persönlichkeit zu empfehlen.
Für die moderne Philosophin war dies keine Option. Sie blieb beim sokratischen Weg, der im offenen Austausch zu einer Vielfalt von Meinungen führen könne. Nur so sei die Voraussetzung gegeben, in einer demokratischen Welt die Unabhängigkeit der Einzelnen zu wahren und das gemeinsame Leben zu fördern. Diese Form der politischen Freiheit benötigt nach Arendt den gesellschaftlichen Dialog wie auch jenen, den der einzelne Mensch mit sich selbst führt: "Die Fähigkeit, zu sprechen, und die Tatsache der menschlichen Pluralität entsprechen einander nicht nur in dem Sinne, dass ich mich mit den anderen, mit denen zusammen ich auf der Welt bin, mit Worten verständige, sondern in dem sogar noch wichtigeren Sinne, dass ich, indem ich mit mir spreche, mit mir zusammenlebe." So mündet ihr Rückblick auf die antike Philosophie in einer Pointe, die auch für jedes moderne Gemeinwesen gilt: "Die Menschen existieren nicht nur wie alle irdischen Wesen im Plural, sie tragen die Signatur der Pluralität auch in sich."
Kritischer Blick auf totalitäre und autokratische Regime
Von dieser Überzeugung her schaut die politische Philosophin auf totalitäre oder autokratische Regime. Für diese können individuelle oder kollektive Freiräume nicht wünschenswert sein, in denen spontane Gespräche stattfinden. Vielmehr reklamiert ein autokratisches Regime scheinbar eindeutige und absolute Deutungen der Wirklichkeit, die keine alternativen Ansichten erlauben und Andersdenkende mit aller Gewalt ausgrenzen oder gleich vernichten. Die Folge sei, so Arendt, ein dramatischer Wirklichkeitsverlust: "[T]otale Erklärung des Vergangenen, totales Sich-Auskennen im Gegenwärtigen und verläßliches Vorhersagen des Zukünftigen" schaffe den Machthabern den Vorteil, "unabhängig von aller Erfahrung" agieren zu können.
Dagegen setzt sie philosophisch die gehaltvolle Freiheit. Die Pluralität des eigenen und gesellschaftlichen Lebens fordert allerdings von den Einzelnen viel gedankliche Arbeit, um nicht in leerer Willkür bloßer Meinungen zu enden. Deshalb ist menschliche Freiheit, will sie substantiell sein, bei Arendt immer an den Anspruch sokratischer Nachdenklichkeit gebunden, die Kant in der Aufklärung "Selbstdenken" nannte. Das philosophische Leben kostet Kraft.
Arendts Vergleich der Revolutionen
In den 1960er Jahren hat Arendt ihre Idee politischer Freiheit nochmals anders anschaulich gemacht, als sie, dankbar für die amerikanische Demokratie, Über die Revolution schrieb. Das Buch fokussierte die Idee von kleinen Räten und Kommunen und zeigte sich skeptisch gegenüber großen Parteien und Meinungstrusts, die in den Vereinigten Staaten zu allen Zeiten furchtbare Auswirkungen hatten. Arendt war fasziniert von den Gründervätern, wohl wissend, dass die wiederkehrende Gefahr tyrannischer und diktatorischer Herrscher ein filigranes System der Gewaltenteilung benötigte.
Aber im Vergleich zu den Revolutionen in Frankreich und Russland erschien ihr die amerikanische Staatsgründung von ihrer Anlage her doch vorbildlicher. So habe die Französische Revolution erstmals die Angst der Funktionäre vor der gewonnenen Freiheit ihrer Räte geschürt, also parteilichen Zwang und staatliche Gewalt gerechtfertigt. Und am Beispiel der Russischen Revolution und der Gründung der Sowjetunion will Arendt zeigen, wie sich Machthaber zwar mit ihrem Namen zum Rätesystem bekannten, dieses aber nach der Etablierung des neuen Staates gezielt ausgelöscht und eine zentrale Ein-Partei-Diktatur geschaffen hätten.
Die "Banalität des Bösen" und eine weltweite Kontroverse
Ihr politisches Leitmotiv der freiheitlichen Spontaneität verfolgte Arendt auch in der Krise des Vietnamkrieges. Sie war um 1970 tief beeindruckt von der amerikanischen Widerstandsbewegung gegen die lügnerische Regierungspolitik. Ihr Essay Ziviler Ungehorsam ruft neben Henry David Thoreau prominent das antike Vorbild des Sokrates ins Gedächtnis. Arendts Überlegungen stellen den Philosophen positiv in Kontrast zur allgemeinen Gedankenlosigkeit. Diese hatte sie als politische Journalistin mit Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen polemisch veranschaulicht und mit dem Buch eine weltweite Kontroverse ausgelöst.
Unabhängig davon, ob Arendt in ihren Urteilen in allem richtig liegt, lässt sich sagen, dass ihre streitbaren Überlegungen zu Schuld und Verantwortung den Kern des Problems treffen. So gab sie mit Verweis auf das aufklärerische Selbstdenken einmal kund: "Kein Mensch hat das Recht zu gehorchen bei Kant." Es muss demnach möglich sein, im Gespräch auch durchaus heikle Meinungen zu vertreten, um der geschichtlichen Wahrheit, die wir alle nie ganz fassen können, näher zu kommen. Nur das couragierte Nachdenken bewahre die Menschen davor, zu willigen Helfern gesellschaftlicher Manipulationen zu werden.
So akzentuiert Arendt angesichts des Vietnamkrieges die Möglichkeit spontanen Einspruches gegen scheinbare Sachzwänge neu. Doch sei diese Form der Zivilcourage nur selten zu beobachten: "Obzwar wir wissen, daß Menschen zum Denken und zum Umgang mit sich selbst fähig sind, wissen wir nicht, wie viele sich den Luxus dieses ziemlich uneinträglichen Geschäfts leisten. Wir können nur feststellen, daß die Gewohnheit, über das, was man tut, nachzudenken und zu reflektieren, unabhängig vom gesellschaftlichen Status, vom Bildungsstand oder vom intellektuellen Rang des einzelnen ist." Der Mut zu solch einer widerständigen Freiheit erwachse spontan, oft in brenzligen Situationen, in denen überkommene Wahrheiten nicht mehr tragfähig sind: "Gute Menschen werden erst in Notsituationen erkennbar, in denen sie plötzlich wie aus dem Nichts in allen Gesellschaftsschichten auftauchen."
Leidenschaft für spontanes Handeln
Hannah Arendts politisches Denken zeigt sich am stärksten in ihrer Leidenschaft für spontanes Handeln. Die Demokratie beginnt demnach beim Einzelnen, der innerlich und äußerlich Raum erhält, um mit sich und anderen das Leben in seiner unaufhebbaren Vieldeutigkeit zu bedenken. Manchmal kann das Engagement bis zum widerständigen Rebellentum gehen, ohne dass eine parteiliche Revolution eindeutige Fortschrittswege weisen dürfe.
Dieser sokratische Zug ihres Denkens prägte auch Das Leben des Geistes, Arendts letztes Werk. Über dessen Vollendung starb die Philosophin im Dezember 1975. Sie lässt entsprechend auch den römischen Politiker Cato zur Sprache kommen, der als Gegner des Diktators Caesar das Selbstgespräch nicht fern von Sokrates als notwendige Voraussetzung politischen Lebens ansieht: "Nie ist der Mensch tätiger, als wenn er nichts tut, und nie ist er weniger allein, als wenn er für sich allein ist." Mit Hannah Arendt politisch denken heißt insofern, persönliche Räume der Nachdenklichkeit zu schaffen, die gesellschaftlich unbehelligt bleiben, getragen vom Vertrauen in die spontane Denkfähigkeit des Menschen. Solch rebellisches Selbstdenken bedarf eines demokratischen Gemeinwesens, um nach der persönlichen Kontemplation Menschen miteinander in Austausch zu bringen.
Eine gehaltvolle Nachdenklichkeit wächst nur im widerständigen Dialog mit tradierten Gedanken, die ihm auf den kulturellen Bühnen der Gesellschaft geboten werden. Hannah Arendt war in diesem Sinne eine sokratische Lehrerin, die selbst neben Büchern und Vorträgen vor allem ihr Seminar nutzte, um Menschen zu sich zu bringen. Jerome Kohn, ihr letzter Assistent, erinnerte sich auf der Trauerfeier an ihr öffentliches Auftreten an der New School for Social Research in Manhattan: "Wir fanden uns in einem Raum der Gleichberechtigung wieder, wo niemand befahl und niemand gehorchte, einem Raum, wo die eigene Meinung so viel zählte wie irgendeine andere, jedenfalls so lange, wie man von ihr überzeugt blieb, so lange, wie man nicht von einer anderen Meinung überzeugt wurde. Mit anderen Worten - wir erfuhren Freiheit in einer Weise, wie wir es nie zuvor getan hatten, wir fühlten uns frei und gleich, was in Hannah Arendts Begriffen hieß, dass wir in der Öffentlichkeit erschienen und uns im Politischen erdenklicher Art engagierten, wo Freiheit und Gleichheit nur selten in einem stabilen Miteinander existierten."
Ein Essay von Prof. Dr. Matthias Bormuth
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