11/17/2025 | News release | Distributed by Public on 11/18/2025 01:05
ETH-Forschende haben einen digitalen Co-Piloten entwickelt, der zu beurteilen hilft, wie gut die Bausubstanz historischer Sandsteingebäude erhalten ist, und dadurch ihre Restaurierung unterstützen kann. Als Fallstudie dient die 750-jährige Kathedrale von Lausanne.
Forschende der ETH Zürich entwickeln einen digitalen Co-Piloten, also einen «Assistenten», der Fachpersonen einen umfassenden Ansatz ermöglicht, um witterungsgeschädigte, historische Sandsteingebäude zu restaurieren.
Der Co-Pilot verbindet künstliche Intelligenz (KI) und erweiterte Realität (XR). Eine erste Version ist im Rahmen eines Pilotprojekts in der Kathedrale Notre-Dame in Lausanne entwickelt und eingesetzt worden.
Das Projekt zeigt beispielhaft, wie sich digitale Werkzeuge in der Denkmalpflege nutzen lassen.
Erbaut zwischen 1170 bis 1235, ist die Kathedrale Notre-Dame in Lausanne die grösste gotische Kirche der Schweiz. Im Lauf der Zeit wurde der imposante Bau immer wieder verändert, ergänzt und restauriert. So erhielt der fast 80 Meter hohe Laternenturm mehrfach ein neues Aussehen, zuletzt am Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge einer umfassenden Restaurierung. Der für den Bau der Kathedrale verwendete Stein ist - wie bei vielen anderen historischen Bauwerken im Schweizer Mittelland - besonders anfällig für Abbauprozesse, die durch Wasser begünstigt werden, etwa Gefrieren, Quellen oder Luftverschmutzung. Deshalb sind konservatorische Massnahmen, besonders - aber nicht ausschliesslich - der Umgang mit Wasser, bei einer Kathedrale eine ständige Herausforderung.
Forschende der ETH Zürich haben nun in mehreren wissenschaftlichen Publikationen aufgezeigt, wie digitale Werkzeuge die Arbeit von Konservator:innen unterstützen können. Hintergrund ist das Forschungsprojekt «Heritage++» am ETH-Institut für Baustoffe. Robert Flatt, Professor für Physikalische Chemie der Baustoffe, leitet das Projekt, das dem ETH-Zentrum Design++ angegliedert ist. Dieses untersucht, wie sich computergestützte Methoden für Architektur, Ingenieur- und Bauwesen nutzen lassen. Das Projekt «Heritage++» seinerseits fokussiert auf den Einsatz von erweiterter Realität (engl. Extended Reality XR) und Künstlicher Intelligenz (KI) zur Restaurierung historischer Gebäude.
Das wichtigste Ergebnis dieser Forschung ist ein immersiver Co-Pilot, also eine Art virtueller Helfer, der Konservator:innen bei ihren Aufgaben hilft. Dieser Co-Pilot baut auf Technologien des räumlichen Computings auf. Diese analysieren den physischen Raum und überlagern ihn mit digitalen Informationen oder Hologrammen, die sich über ein Tablet oder ein XR-Headset betrachten lassen. «XR-Technologien haben ein enormes Potenzial, die interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Expert:innen aus Architektur, Materialwissenschaft, Geschichte und Denkmalpflege zu erleichtern», sagt Robert Flatt.
In ihrem neuesten Artikel im International Journal of Architectural Heritage zeigen die Forschenden, wie sich Informationen zur strukturellen Analyse eines Bauwerks mithilfe von XR anschaulich darstellen und erweitern lassen, um Entscheidungsprozesse zu unterstützen sowie um Wissen über kulturelles Erbe zu vermitteln. «Unser Artikel stellt eine neue Möglichkeit vor, die Struktur des Gebäudes anschaulich darzustellen und interaktiv erfahrbar zu machen. Sowohl Fachpersonen aus unterschiedlichen Disziplinen als auch die breite Öffentlichkeit können diese Einblicke so aktiv erkunden. Das hilft sicherzustellen, dass Stabilität und Sicherheit bei künftigen Eingriffen sorgsam bedacht und berücksichtigt werden», erklärt Ricardo Maia Avelino, Postdoktorand bei Design++, der an der ETH Zürich über die strukturelle Analyse historischer Gebäude promoviert hat.
Die Kathedrale Notre-Dame in Lausanne dient als Fallstudie zur Entwicklung des digitalen Co-Piloten, die in zwei Schritten erfolgt: Zunächst erstellten die Forschenden 3D-Modelle der Kathedrale auf der Grundlage von Daten aus Laserscans und photogrammetrischen Aufnahmen. Anschliessend ergänzten sie das Modell um detaillierte Informationen zu den Steinen in der Kathedrale: Jedem Sandstein-Element wurden ein Alter, eine mineralogische Charakterisierung und ein Degradationstyp zugeordnet. Aus diesen Informationen lässt sich ablesen, wann ein Steinblock erstmals eingebaut wurde, woher er stammt und wie sehr er beschädigt ist. Die entsprechenden Daten stammten aus verschiedenen Quellen, unter anderem von Geolog:innen der Universität Lausanne. Derzeit deckt die Kartierung erst bestimmte Bereiche der Kathedrale ab. In den kommenden Jahren wollen die Forschenden diese multimodale Kartierung nun vervollständigen.
Wer nun die Kathedrale mit einem Tablet oder einem XR-Headset betritt, kann die entsprechenden Bereiche betrachten und erhält dann zu dem jeweils ausgewählten Element die Informationen zu Alter, Materialzusammensetzung und Schädigung eingeblendet (siehe Video). «Unser digitaler Co-Pilot erlaubt es Konservator:innen, sich bei Inspektionen vor Ort ein Bild über den Zustand des Monuments zu machen und weitere relevante Informationen zu erhalten. Danach können sie anhand der Schwachstellen das passende Vorgehen für die Restaurierung festlegen», sagt Yamini Patankar, die als Doktorandin am Projekt mitwirkt und dabei von einem Bundes-Exzellenz-Stipendium profitiert.
Beim Restaurieren historischer Gebäude gilt heute der Grundsatz, möglichst viel der ursprünglichen Bausubstanz zu erhalten. Damit dies gelingt, untersuchen die ETH-Forschenden, wie genau die Schäden am Sandstein entstehen. Wasser spielt dabei eine zentrale Rolle - vor allem Regen. Während sich senkrechter Regen durch bauliche Massnahmen abhalten lässt, ist windgetriebener Regen unkontrollierbar. Besonders extreme Ereignisse, die das Gestein schnell und stark durchnässen mit anschliessend raschem Austrocknen gelten als die Hauptursachen von Schäden. Sie sind stark ortsabhängig.
Bei solchen Ereignissen dringt Feuchtigkeit in den tonhaltigen Sandstein der Kathedrale ein und verursacht Schäden durch Prozesse wie Aufquellen, Salzkristallisation oder Frost. Um die Schadensentstehung und den Einfluss der Luftverschmutzung zu verstehen, messen die ETH-Forschenden seit Jahren den windgetriebenen Regen, das lokale Mikroklima und die Feuchtigkeitsverteilung im Stein mithilfe eines Sensornetzwerks rund um die Kathedrale.
Zudem entwickeln die ETH-Forschenden ein Modell, das den lokalen Einfluss - besonders den windgetriebenen Regen - mit den beobachteten Schadensformen und -ausmassen verknüpft. Expert:innen könnten dieses Modell nutzen, um vorherzusagen, wie sich Schäden künftig verändern könnten - nicht nur durch den Lauf der Zeit, sondern in Bezug auf den Klimawandel und namentlich mit Blick auf die Art, Intensität und Häufigkeit extremer Wetterereignisse bei der Kathedrale. Auf dieser Grundlage liessen sich massgeschneiderte Restaurierungsstrategien entwickeln und die Dauerhaftigkeit von Restaurierungsmassnahmen verbessern, indem die Folgen des Klimawandels frühzeitig berücksichtigt würden - was eine echte Herausforderung für die Praxis darstellt.
Digitale Werkzeuge wie 3D-Modelle oder Heritage Building Information Modelling sind im Bereich des Kulturerbes nichts Neues. Das Projekt «Heritage++» geht jedoch einen Schritt weiter: Es verknüpft Informationen aus verschiedenen Fachgebieten mit einem Schwerpunkt auf der Denkmalpflege. Zudem macht es diese Informationen interaktiv nutzbar und ermöglicht es, das praktische Wissen und die Erfahrung von Konservator:innen einzubeziehen. In Zukunft könnte der digitale Co-Pilot, wie er an der Kathedrale von Lausanne eingesetzt wird, auch für andere Sandsteinbauten wie Brücken, Burgen oder Klöster genutzt werden - und mittelfristig für Gebäude aus anderen Materialien.
Christophe Amsler, der für die Lausanner Kathedrale verantwortliche Architekt, ist überzeugt, dass digitale Technologien ein fester Bestandteil der Denkmalpflege sein werden: «Historische Bauwerke zu erhalten, erfordert kontinuierliche Pflege und Aufmerksamkeit. Technologische Fortschritte können uns helfen, diese Gebäude zu reparieren und lebendig zu halten. Gleichzeitig müssen wir dem ursprünglichen Geist und dem kulturellen Erbe des Baudenkmals treu bleiben.»
Im Oktober wurde in Lausanne das 750 Jahr-Jubiläum der Kathedrale Notre-Dame gefeiert. Zu diesem Anlass entwickelten die ETH-Forschenden in «Heritage++» eine App, die der breiten Öffentlichkeit einen Einblick in die konservatorischen Arbeiten rund um die Kathedrale gibt. «Besucherinnen und Besucher der Kathedrale können über die App unter Einbezug von Extended-Reality-Technologien Informationen zur Geschichte des Gebäudes abrufen und erfahren, welche Konservierungsarbeiten im Gange sind und was dahintersteckt», sagt ETH-Doktorandin Camilla Tennenini aus der Gruppe von Robert Flatt.
Die App verbindet eine breite Palette von Fachliteratur und darüber hinaus Videoaufnahmen, in denen Expert:innen die Restaurierungsarbeiten erläutern. Diese Informationen werden zusätzlich direkt an der Kathedrale visualisiert - mithilfe des bereits erwähnten 3D-Modells sowie Augmented Reality. Besucher:innen können sie innerhalb und ausserhalb der Kathedrale über ein Smartphone oder Tablet aufrufen.
Über das 750-Jahr-Jubiläum hinaus wird der Co-Pilot selbst im Rahmen des Projekts «Heritage++» um ein KI-Sprachmodell erweitert, das Informationen aus Fachliteratur und Videos bezieht. So können Konservator:innen künftig direkt auf der Baustelle auf relevante Informationen über die Restaurierungsarbeiten zugreifen. Mittelfristig soll auch die Öffentlichkeit die App nutzen können, um Fragen zu den Renovierungen der Kathedrale zu stellen.
Avelino RM, Yang W, Weichbrodt A, Ochsendorf J, Flatt RJ: Augmented Reality for Structural Inspection of Historic Monuments: The Case of Lausanne Cathedral. International Journal of Architectural Heritage, 7. November 2025, doi: externe Seite 10.1080/15583058.2025.2578318
Patankar Y, Tennenini C, Bischof R, Khatri I, Avelino RM, Yang W, Mahamaliyev N, Scotto F, Mitterberger D, Bickel B, Girardet F, Amsler C, Bomou B, Flatt RJ: Heritage ++, a Spatial Computing approach to Heritage Conservation. RILEM Technical Letters, 9: 50, 2024, doi: externe Seite 10.21809/rilemtechlett.2024.202