01/23/2025 | Press release | Distributed by Public on 01/23/2025 12:50
Das Internationale Auschwitz Komitee hat der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz vor 80 Jahren gedacht. Bundeskanzler Olaf Scholz hat an der Gedenkveranstaltung in der Landesvertretung Niedersachsen in Berlin teilgenommen. In seiner Rede gedachte er der Opfer des Nationalsozialismus und betonte, dass die Erinnerungsarbeit und die Wachsamkeit gegenüber jeder Form von Hass und Diskriminierung zentrale Aufgaben bleiben.
"Nie wieder dürfen wir zulassen, dass unsere Gesellschaft in 'wir' und 'die anderen' gespalten wird", sagte Kanzler Scholz. Diese Botschaft sei nicht nur eine historische Mahnung, sondern auch ein klarer Auftrag für die Gegenwart. Die Einzigartigkeit der Schoah müsse vermittelt werden. Die zahllosen Versuche der Geschichtsverfälschung und der Relativierung dürften nicht hingenommen werden.
Erinnern als bleibende Verantwortung
In diesem Zusammenhang würdigte der Kanzler insbesondere die Arbeit des Internationalen Auschwitz Komitees. Er betonte: "Mit Ihrer Gedenk- und Bildungsarbeit, Ihrer Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen schaffen Sie diese Zugänge, schaffen Sie die Empathie mit den Opfern, die so elementar wichtig dafür ist, unsere bleibende Verantwortung zu vermitteln."
Zudem sprach Kanzler Scholz den letzten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen einen besonderen Dank aus: "Sie haben uns, den Nachgeborenen, ihre persönliche Geschichte anvertraut. Wir müssen uns dieses Vertrauens würdig erweisen." Das geschehe, indem die Geschichte der Schoah und die Geschichte ihrer Opfer weitererzählt werde.
Lesen Sie hier die Mitschrift der Rede:
Sehr geehrter Herr Heubner,
sehr geehrte Frau Lessing,
sehr geehrte Frau Vizepräsidentin des Bundestages
sehr geehrter Herr Ministerpräsident Weil,
sehr geehrte Frau Bundesministerin Faeser,
sehr geehrter Herr Botschafter Prosor,
sehr geehrte Frau Friedländer,
sehr geehrte Frau Winkelmann,
sehr geehrte Frau Präger,
sehr geehrte Ehrengäste,
meine sehr geehrten Damen und Herren!
"Wir sagen 'Hunger', wir sagen 'Müdigkeit', 'Angst' und 'Schmerz', wir sagen 'Winter', und das sind andere Dinge. Denn es sind freie Worte, geschaffen und benutzt von freien Menschen, die Freud und Leid in ihrem Zuhause erlebten. Hätten die Lager länger bestanden, wäre eine neue, harte Sprache geboren worden; man braucht sie einfach, um erklären zu können, was das ist, sich den ganzen Tag abzuschinden in Wind und Frost, nur mit Hemd, Unterhose, leinener Jacke und Hose am Leib, und in sich Schwäche und Hunger und das Bewusstsein des nahenden Endes." So beschrieb Primo Levi in seinem Bericht "Ist das ein Mensch?" das Unbeschreibliche: seine Gefangenschaft in Auschwitz, seinen Kampf um Leben in der Allgegenwart des Todes.
Primo Levi wurde am 22. Februar 1944 aus dem Durchgangslager Fossoli in Italien nach Auschwitz deportiert. Von den insgesamt 650 jüdischen Frauen, Männern und Kindern in dem Transport wurden 526 unmittelbar nach der Ankunft in den Gaskammern von Birkenau ermordet. Die übrigen 95 Männer und 29 Frauen wurden in die Lager von Auschwitz eingewiesen, wo sie unter unmenschlichsten Bedingungen Zwangsarbeit leisten mussten.
Als die 60. Armee der 1. Ukrainischen Front der Roten Armee am 27. Januar 1945 Auschwitz erreichte, fanden ihre Soldaten dort fast nur noch diejenigen vor, die als zu krank und zu schwach für die Märsche in Richtung Westen zurückgelassen worden waren, die Todesmärsche, von denen auch Marian Turski als Überlebender immer wieder berichtet hat. Einer der in Auschwitz Zurückgelassenen war Primo Levi. Er erlebte die Befreiung - krank und völlig entkräftet - als einer von 20 Überlebenden seines Transports aus Italien - 20 von 650.
Mehr als eine Million Menschen wurden in den Lagern von Auschwitz ermordet, mehr als eine Million einzigartige Menschen, Individuen, Ehefrauen und Ehemänner, Jungen und Mädchen, Großmütter und Großväter. Sie wurden vergast, erschossen, sie starben an Hunger, Zwangsarbeit und medizinischen Experimenten. Eine monströse Zahl - und gleichzeitig nur ein Ausschnitt deutscher Verbrechen.
Wenn wir am 27. Januar des 80. Jahrestages der Befreiung Auschwitz' gedenken, dann gedenken wir aller Opfer der nationalsozialistischen Diktatur. Wir gedenken der mindestens sechs Millionen ermordeten Jüdinnen und Juden, getötet in Vernichtungslagern wie Auschwitz, Kulmhof, Belzec, Sobibor und Treblinka, ausgehungert in Ghettos und Arbeitslagern, erschossen und erschlagen bei Massakern in mehr als 1500 Städten, Kleinstädten und Dörfern in Mittel- und Osteuropa, zu Hunderttausenden umgekommen auf Todesmärschen. Wir gedenken all jener, die die nationalsozialistische Ideologie zu Feinden erklärt und verfolgt hat. Wir gedenken der ermordeten Sinti und Roma, der ermordeten politischen Gegner des NS- Regimes, der ermordeten Homosexuellen, der ermordeten Kranken, der Menschen mit Behinderungen und der als sogenannte "Asoziale" Diffamierten. Wir gedenken der ermordeten Polinnen und Polen, der ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen, der Opfer aus allen Ländern, die besetzt waren und unter deutschen Einfluss gerieten. Wir gedenken eines von Deutschen begangenen Zivilisationsbruchs, wie es ihn nie zuvor gegeben hatte - es ist wichtig, das immer wieder zu sagen -, eines Zivilisationsbruchs für den wir weiterhin Verantwortung tragen.
Zu dieser Verantwortung gehört das Erinnern. Gerade heute dürfen und werden wir nicht zulassen, dass die Verbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands langsam weggleiten oder weggeschoben werden - in das Ungefähre längst vergangener Zeiten. Wir dürfen und wir werden keine Relativierung hinnehmen, und wir werden auch jede neue Generation an ihre bleibende Verantwortung erinnern, eine Verantwortung, die jede und jeder in unserem Land trägt, unabhängig von der eigenen Familiengeschichte, unabhängig von Religion oder dem Geburtsort der Eltern oder Großeltern. Das ist die bleibende Herausforderung in unseren Schulen und Universitäten, in der Ausbildung, in Integrationskursen und im tagtäglichen Leben.
Die Einzigartigkeit der Schoah muss gegen die zahllosen Versuche der Geschichtsverfälschung und Relativierung immer wieder mit Zahlen und Fakten vermittelt werden, und daneben muss sie, um für nachwachsende Generationen mehr als diffuse Vergangenheit zu sein, immer auch als Geschichte millionenfachen, individuellen Leids verstanden werden. Deswegen bin ich unendlich dankbar für die Arbeit des Internationalen Auschwitz Komitees. Mit Ihrer Gedenk- und Bildungsarbeit, Ihrer Arbeit mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen schaffen Sie diese Zugänge, schaffen Sie die Empathie mit den Opfern, die so elementar wichtig dafür ist, unsere bleibende Verantwortung zu vermitteln. Ich danke Marian Turski, der heute nicht hier sein kann, und allen, die sich im Internationalen Auschwitz Komitee und insgesamt in der Erinnerungsarbeit engagieren, aus tiefstem Herzen.
Einen ganz besonderen Dank möchte ich dabei den letzten Zeitzeuginnen und Zeitzeugen aussprechen. Sie haben uns, den Nachgeborenen, ihre persönliche Geschichte anvertraut. Wir müssen uns dieses Vertrauens würdig erweisen, indem wir ihre Geschichte, die Geschichte der Schoah, die Geschichte ihrer Opfer weitererzählen und indem wir dort nicht aufhören, sondern auch immer aussprechen, was daraus folgen muss. Margot Friedländer hat es so formuliert: "Es gibt kein christliches, muslimisches, jüdisches Blut, nur menschliches. Seid Menschen, respektiert Menschen."
Diese Aufgabe, diese Botschaft des Humanismus steht im Zentrum, wenn es etwa darum geht, die Arbeit der Gedenkstätten des Bundes weiterzuentwickeln. Diese Aufgabe steht im Fokus des Bundesprogramms "Jugend erinnert", das wir im vergangenen Jahr neu aufgelegt haben und das insbesondere Jugendliche anregen soll, sich für unsere demokratischen Werte einzusetzen. Und diese Aufgabe steht beispielsweise auch im Zentrum des wichtigen Engagements der Volkswagen AG, deren Auszubildende seit Jahrzehnten helfen, die Gedenkstätte Auschwitz zu erhalten. Vielen Dank, dass Sie dabei mitgemacht und uns heute davon erzählt haben, liebe Josephine Präger.
Meine Damen und Herren, bei der Frage nach unserer bleibenden Verantwortung geht es ums Erinnern. Es geht aber auch ums Handeln. "Könnte aus unserm Lager nur eine Botschaft hinausdringen zu den freien Menschen, so lautete sie: Sorget, dass euch in eurem Heim nicht geschehe, was uns hier geschieht." So formulierte es Primo Levi in seinem Bericht aus Auschwitz. "Nie wieder", das war seine Hoffnung im Angesicht des sicher geglaubten Todes.
Es ist diese Hoffnung, die unsere Verfassung, geschrieben als Gegenentwurf zur Nazidiktatur, zur höchsten Verpflichtung des freien, demokratischen Deutschlands erklärt: "Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt." Gerade heute - im Lichte von explodierendem Populismus und Nationalradikalismus, angesichts der Rufe nach brutalen Lösungen, angesichts immer schamloserer Versuche, rechtsextremistische Positionen zu normalisieren - dürfen wir darin keinen Millimeter zurückweichen. Ganz im Gegenteil: Stehen wir auf und wehren wir uns!
Der Schutz der Menschenwürde ist die Aufforderung zu ständiger Wachsamkeit und aktiver Menschlichkeit - jeden Tag. Marian Turski hat es in Anlehnung an Roman Kent, seinen Vorgänger als Präsident des Internationalen Auschwitz Komitees, das 11. Gebot genannt. Auch in seiner heutigen Rede hat er es bekräftigt: "Du sollst nicht gleichgültig sein." Darum geht es. Denn die Zerstörung des Gemeinwesens begann mit der Gleichgültigkeit. Sie begann damit, dass deutsche Bürgerinnen und Bürger weitgehend tatenlos zusahen, als ihre Kolleginnen und Kollegen, Nachbarn und Bekannten erst entrechtet, dann verschleppt und schließlich in Massen umgebracht wurden. Als vor fast 90 Jahren - im September 1935 - die Nürnberger Gesetze in Kraft traten, war die staatliche Entrechtung, berufliche Ausgrenzung und wirtschaftliche Enteignung der Jüdinnen und Juden bereits seit mehr als zwei Jahren in vollem Gange - das alles hatte schon unmittelbar mit der Machtübernahme begonnen -, und es hatte sich kaum ein Protest geregt, als schon im Frühjahr und Sommer 1933 jüdische Geschäfte boykottiert wurden, als Juden aus dem Beamtentum und den juristischen Berufen entfernt wurden, als die ersten Gesetze zum Entzug der deutschen Staatsangehörigkeit auf den Weg gebracht wurden. Der Theologe Martin Niemöller versuchte nach dem Krieg die bittere Logik dieser Entwicklung zu beschreiben. Bis mitten in die Gräuel der Schoah hinein habe man sich immer sagen können: Es trifft ja nicht mich, es trifft ja "die anderen". - Und neben den Gleichgültigen gab es diejenigen, die mitgemacht haben und die - vergessen wir es nicht - einverstanden waren mit dem Unrecht.
Nie wieder dürfen wir zulassen, dass unsere Gesellschaft in "wir" und "die anderen" gespalten wird. Deswegen ist es empörend und beschämend, dass Ausgrenzung auch heute hier in unserem demokratischen Deutschland immer noch Jüdinnen und Juden trifft. Das werden wir niemals hinnehmen, und dabei darf es keine Rolle spielen, ob Antisemitismus politisch motiviert ist oder religiös, ob er von links kommt oder von rechts, ob er seit Jahrhunderten hier gewachsen ist oder von außen ins Land kommt. Wir nehmen Antisemitismus nicht hin, und deshalb bekämpfen wir weiter jede Form von Menschenfeindlichkeit, Rassismus und Terrorpropaganda mit allen rechtlichen Mitteln. Wer Terrorismus unterstützt, wer antisemitisch hetzt, der muss strafrechtlicher Verfolgung begegnen, der muss mit Vereinsverboten rechnen und der muss mit aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen rechnen. Mit dem neuen Staatsangehörigkeitsrecht haben wir auch ganz klar geregelt, dass die Einbürgerung antisemitisch eingestellter Personen nicht infrage kommt.
Nicht gleichgültig zu sein, das ist eine Staatsaufgabe. Das ist aber auch Bürgeraufgabe. Denn auch die Geschichte unseres demokratischen Staates zeigt, dass wir uns nie allein auf den Wortlaut unserer Verfassung verlassen dürfen. Unsere Demokratie brauchte und braucht Bürgerinnen und Bürger, die für sie einstehen, Bürgerinnen und Bürger, die immer wieder einfordern, dass die Prinzipien, auf denen unser Staat errichtet ist, auch tatsächlich gelten. Die juristische Aufarbeitung der Schoah ist ein Beleg dafür. So dauerte es in der Bundesrepublik bis zum Ende der Fünfzigerjahre, bis die ersten größeren Prozesse gegen die Täter begannen. Es brauchte mutige Juristen wie den hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der treibende Kraft bei der Vorbereitung des ersten, ab 1963 in Frankfurt geführten Auschwitzprozesses war - gegen erhebliche Widerstände.
Zum aufrichtigen Umgang mit der Geschichte unseres Landes gehört jedoch das Eingeständnis, dass zu viele Täter davongekommen sind. Zu viele Verfahren wurden eingestellt. Auch durch weitreichende Amnestien und Verjährungsregelungen wurde die Ahndung begangenen Unrechts verhindert. Viel zu spät, erst nach 2011, kam es nach einer Änderung der Rechtsprechung wieder zu einzelnen Verfahren gegen Beteiligte an NS-Verbrechen. Dennoch sind diese Verfahren wichtig und richtig, und ich habe Hochachtung vor den Juristinnen und Juristen, die ihre Kraft so lange danach noch in den Dienst der juristischen Aufarbeitung stellen. Das gehört auch zu unserer bleibenden Verantwortung.
Auch der Umgang mit den nationalsozialistischen Verbrechen an Sinti und Roma ist ein Beleg dafür, dass es nicht reicht, das Wort "Menschenwürde" nur zu schreiben oder bloß von ihr zu sprechen. Menschenwürde muss Handlungsmaxime sein, sie muss eingefordert und im Notfall auch eingeklagt werden können. Bis zu einer halben Million Sinti und Roma haben die Nationalsozialisten in ihrem Rassenwahn ermordet. Mehr als 4000 von ihnen starben allein in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau. "Diese Verbrechen haben den Tatbestand des Völkermords erfüllt". Es war Helmut Schmidt, der diese Worte zum ersten Mal aussprach. Das war jedoch erst 1982.
Über Jahrzehnte wurde dieser Völkermord nicht anerkannt, und nicht nur das. Sinti und Roma wurden auch nach dem Ende der NS-Diktatur weiter diskriminiert. Der Staat - die Bundesrepublik - erfasste sie auf Grundlage ihrer Abstammung, verweigerte Entschädigungen, machte sie teilweise selbst für ihre Verfolgung verantwortlich. So waren es Sinti und Roma selbst, die sich seit den Fünfzigerjahren organisierten und über viele Jahre hinweg dafür kämpften, dass ihre Rechte anerkannt wurden.
Meine Damen und Herren, dieser Kampf um die Unverletzlichkeit der Würde jedes und jeder Einzelnen geht weiter. Er ist heute so wichtig wie lange nicht. Antisemitismus, überhaupt Anfeindungen aufgrund eines bestimmten Glaubens, politischer Überzeugungen oder der sexuellen Identität, offener Hass gegen Frauen, gegen Personen mit der falschen Hauptfarbe, dem falschen Namen, Angriffe gegen Menschen mit Behinderung - das alles nimmt zu, offline und online, onlineallerdings tausendfach verstärkt durch Algorithmen, Echokammern und auch durch die direkte Einflussnahme mächtiger Einzelner mit extremistischen Ansichten.
Unsere Verantwortung, 80 Jahre danach, ist es auch, diesem Hass zu widerstehen. Das ist Staatsaufgabe, das bleibt aber auch Bürgeraufgabe. Dazu sind in unserem demokratischen Land keine großen Heldentaten erforderlich. Dafür reicht Zivilcourage. Dafür genügen Respekt, Fairness und Rücksichtnahme im alltäglichen Umgang. Die beste Orientierung gibt der verstorbene Vater von Marcel Reif, den dieser im vergangenen Jahr so ergreifend im Bundestag zitierte: "Sei ein Mensch!"
Schönen Dank.