12/20/2025 | Press release | Distributed by Public on 12/20/2025 14:58
Ist das Reparationsdarlehen wirklich vom Tisch?
Vor dem EU-Gipfel: Bart de Wever, Ministerpräsident von Belgien, spricht mit Kollegen vor der ersten Arbeitssitzung.
© Michael Kappeler / dpa / picture alliance
Spätestens im Frühjahr 2026 wird es knapp. Dann reichen die finanziellen Mittel für die Ukraine nicht mehr, um sich gegen den Aggressor Russland zu wehren, so rechnen Beobachter. Die EU will ihren möglichen Beitrittskandidaten Ukraine unterstützen. Doch woher sollen die Mittel kommen? Und können die festgesetzten russischen Vermögenswerte ("frozen assets") dafür eingesetzt werden? Diese hoch umstrittene Frage stand im Zentrum der Verhandlungen im Europäischen Rat vom 18. Dezember 2025.
In der Nacht auf den 19. Dezember hat der Rat nach langwierigen Verhandlungsgesprächen entschieden, dass die Ukraine über die kommenden zwei Jahre ein zinsloses Darlehen in Höhe von 90 Milliarden Euro erhält. Dafür sollen neue EU-Schulden aufgenommen werden. Im Vorfeld wurden verschiedene rechtliche Möglichkeiten intensiv diskutiert.
Dimitri Spieker kennt die Feinheiten des Europarechts - er forscht am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht zum Verfassungsrecht der EU. Wie bewertet er den Kompromiss?
"Der Europäische Rat hat sich für die Aufnahme gemeinschaftlicher Schulden für das Ukraine-Darlehen, entschieden. Das war Plan B. Damit hat er einerseits den belgischen Bedenken Rechnung getragen und die russischen Vermögenswerte - fürs Erste - nicht angetastet. Entsprechend ist die Entscheidung vom Grundsatz der Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten getragen. Zum anderen wurde die ungarische Blockade zur Aufnahme gemeinschaftlicher Schulden für die Darlehensfinanzierung überwunden. Hier geht die EU nun den Weg verstärkter Zusammenarbeit ohne Ungarn, Tschechien und die Slowakei."
Allerdings gilt: Wenn die Ukraine das Darlehen, aufgrund des Ausbleibens russischer Reparationen, nicht zurückzahlen kann, steht der Rückgriff auf das eingefrorene russische Vermögen wieder auf der Agenda. Dass dies ein sehr wahrscheinliches Szenario ist, liegt auf der Hand. Und das heißt: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
Dimitri Spieker erklärt, welche Varianten im Europäischen Rat zur Diskussion standen:
Plan A: "Reparationsdarlehen" finanziert aus eingefrorenen russischen Vermögenswerten
Das Reparationsdarlehen soll hiernach aus russischen Vermögenswerten finanziert werden, die bei Finanzinstituten in der EU eingefroren sind. Zentral sind etwa 200 Milliarden Euro russisches Zentralbankvermögen, das auf Verwahrstellen (sogenannte "Clearing"-Stellen, insbesondere Euroclear) in Belgien liegt.
Nach den Vorschlägen der Kommission soll eine "Darlehenskaskade" entstehen. Stark vereinfacht erklärt "leiht" sich die Union Beträge in Höhe der russischen Vermögenswerte von den Finanzinstituten. Der russische Zahlungsanspruch gegenüber den Finanzinstituten in Höhe der betreffenden Beträge bleibt aber weiterhin bestehen. Aufgrund der Immobilisierung - dem "Einfrieren" - kann er allerdings nicht durchgesetzt werden. Dieses Geld wird dann - in einem zweiten Schritt - der Ukraine geliehen.
Die Rückzahlung dieses "Darlehens" an die Finanzinstitute erfolgt erst, Die Rückzahlung dieses "Darlehens" an die Finanzinstitute erfolgt erst, wenn die Ukraine ihr Darlehen an die Union - auf Grundlage russischer Reparationszahlungen - zurückgezahlt hat. Mit solchen Reparationen ist natürlich nicht zu rechnen.
Damit das alles funktioniert, muss das russische Vermögen bis zu einer zukünftigen Reparationsleistung eingefroren bleiben.
Plan B: Darlehen finanziert aus dem EU-Haushalt: Eine Alternative zu diesem Weg ist die Aufnahme von EU-Anleihen, d.h. gemeinschaftlichen Schulden. Die notwendige Sicherheit bietet hierbei der EU-Haushalt.
Die Darlehenskaskade, verhindert ein direktes Abschöpfen der russischen Vermögenswerte. Denn der russische Zahlungsanspruch bleibt weiter bestehen. Die Rechtmäßigkeit einer solchen direkten Abschöpfung ist hoch umstritten, insbesondere unter dem völkerrechtlichen Grundsatz der Staatenimmunität. Hier werden Beträge in Höhe der Vermögenswerte aber nur "geliehen". Die Finanzinstitute erhalten Schuldscheine der Union dafür.
Größter Kritiker von Plan A ist die belgische Regierung. Die Clearing-Stellen, bei denen das russische Zentralbankvermögen eingefroren ist, sitzen in Belgien und damit in der Jurisdiktion dieses Mitgliedstaates. Belgien sieht in diesem Vorgehen eine völkerrechtswidrige "Enteignung" und fürchtet - wohl nicht unbegründet - russische Reaktionen. Entsprechend konstatierte der belgische Premierminister: "We may wish to believe that the proposed scheme is set up to be in line with international law and, in particular, does not amount to an illegal confiscation. The uneasy fact of the matter is, however, that others will see things differently, and act accordingly."
Ein echtes Veto hat Belgien aber nicht. Die Rechtsgrundlagen, mit denen Plan A umgesetzt werden könnte (Art. 212 AEUV für das Darlehen und Art. 122 AEUV für das Einfrieren der Vermögenswerte) sehen keine Einstimmigkeit vor. Für eine Berücksichtigung der belgischen Position spricht der Wert der Solidarität in Art. 2 EUV. Der Grundsatz gegenseitiger Solidarität gilt auch in der Gemeinsamen Außen und Sicherheitspolitik, wie Art. 21, 24 oder 31 und 32 EUV zeigen. Nach Art. 24 Abs. 2 EUV arbeiten die Mitgliedstaaten zusammen, "um ihre gegenseitige politische Solidarität zu stärken und weiterzuentwickeln". Diese Bestimmungen enthalten Rechtspflichten. Ob ein Überstimmen der belgischen Regierung, die das primäre Risiko trägt, diesem Grundsatz entspricht, ist zumindest zweifelhaft.
Tatsächlich hat sich der Europäische Rat ein Hintertürchen für eine Verwendung des eingefrorenen russischen Vermögens offengelassen. Aus den Schlussfolgerungen folgt zunächst, dass der Ukraine ein Darlehen in Höhe von 90 Milliarden Euro für die Jahre 2026-2027 "auf der Grundlage von EU-Anleihen auf den Kapitalmärkten zu gewähren" ist, "das durch den Haushaltsspielraum der EU abgesichert" wird. Der Europäische Rat hat damit den Bedenken Belgiens Rechnung getragen.
Rechtsgrundlage für das Darlehen soll Art. 212 AEUV sein, der wirtschaftliche Zusammenarbeit mit Drittstaaten regelt. Die erforderlichen Maßnahmen müssen im ordentlichen Gesetzgebungsverfahren erlassen werden, bei dem lediglich eine qualifizierte Mehrheit im Rat erforderlich ist. Allerdings ist zuvor wohl eine Anpassung im EU-Haushalt vorzunehmen, die einstimmig erfolgen muss (vgl. Art. 312 AEUV).
Die Ukraine würde dieses Darlehen erst zurückzahlen, wenn sie Reparationszahlungen erhalten hat. Wichtig ist, dass sich der Europäische Rat ausdrücklich vorbehält, die eingefrorenen russischen Vermögenswerte "für die Rückzahlung des Darlehens zu verwenden". Damit hält sich die EU ein Hintertürchen offen.
Größter Gegner der Lösung über gemeinschaftliche Schulden war Ungarn, aber auch die Slowakei und Tschechien. Um Ungarns Zustimmung zu Plan B zu erhalten wurde der Weg der s.g. "Verstärkten Zusammenarbeit" nach Art. 20 EUV gewählt. Dieses Instrument ermöglicht es, gewisse Maßnahmen ohne bestimmte Mitgliedstaaten durchzuführen. Genutzt wurde es etwa in Bereichen wie dem EU-Patent, der Europäischen Staatsanwaltschaft oder der Finanztransaktionssteuer, wo nur einige Mitgliedstaaten kooperieren. Im EU-Haushalt ist dies jedoch ein absolutes Novum.
Klar ist, dass es sich um eine verstärkte Zusammenarbeit von 24 Mitgliedstaaten ohne Ungarn, der Slowakei und Tschechien, handelt. Nur die zusammenarbeitenden 24 Mitgliedstaaten sollen an der gemeinschaftlichen Haftung für die EU-Anleihen beteiligt werden. Allerdings bleibt vieles offen. Denn die "Sicherheit" für die EU-Anleihen soll - so die Schlussfolgerungen des Europäischen Rates - aus dem Haushalt der EU stammen. Wie man hier drei Mitgliedstaaten herausnehmen möchte, ist unklar. Der Europäische Rat hat nur betont, dass die "Mobilisierung von Mitteln aus dem Unionshaushalt als Garantie für dieses Darlehen keine Auswirkung auf die finanziellen Verpflichtungen der Tschechischen Republik, Ungarns und der Slowakei haben" soll.
Die Rechtsgrundlage für das Ukraine-Darlehen ist Art. 212 AEUV. Daher wird die konkrete Ausarbeitung nun an den EU-Gesetzgeber gehen, d.h. Rat und Parlament. Weiterhin wird eine Änderung des EU-Haushaltes vorzunehmen sein, die von der Kommission bereits vorgeschlagen wurde. Hierfür ist ein einstimmiger Beschluss der Mitgliedstaaten im Rat sowie eine Zustimmung des Europäischen Parlaments erforderlich.
Gleichzeitig soll eine entsprechende Verordnung zum permanenten Einfrieren der russischen Vermögenswerte auf Grundlage von Art. 122 AEUV erlassen werden. Hier entscheiden die Mitgliedstaaten im Rat mit qualifizierter Mehrheit ohne das Parlament.
Diese Meldung erschien zuert am 18.12.25, während der Ministerrat noch tagte. Sie wurde nach der Einigung um die Ergebnisse am 19.12. ergänzt. Letzte Aktualisierung: 20.12.25