Der jüngste Erfolg der Netflix-Serie Adolescence, in der es um die Folgen der Entscheidung eines 13-jährigen Jungen geht, eine Klassenkameradin zu ermorden, nachdem er frauenfeindlichen Inhalten und Cybermobbing ausgesetzt war, scheint von einer starken und wachsenden Angst im modernen Leben angetrieben zu sein - und von der Frage: schaden soziale Medien jungen Menschen?
Für Lulu Nelleman (25), Botschafterin des dänischen Anti-Stigmatisierungs-Programms EN AF OS (dt.: Eine(r) von uns), und Inês Malia Sarmento, eine portugiesische Aktivistin für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, lässt sich diese Frage nicht so einfach beantworten.
"Soziale Medien können eine Menge Gutes bewirken", sagt Lulu. "Du kannst Profile finden und ihnen folgen, die über genau die gleichen Dinge sprechen, mit denen du zu kämpfen hast. Gleichzeitig ertappe ich mich manchmal bei dem Gedanken: Warum habe ich noch Instagram?"
Auslösung durch Algorithmen
Lulu war 15 Jahre alt, als sie begann, sich selbst zu verletzen, was sie als eine Sucht beschreibt. Es begann mit Schnittverletzungen und eskalierte dann zu schwerwiegenderen Formen, die zu Aufenthalten in der Notaufnahme führten. Bei ihr wurde eine Borderline-Persönlichkeitsstörung diagnostiziert, und sie entwickelte eine Essstörung, bei deren Bewältigung sie sich sehr alleingelassen fühlte.
"Ich hatte dieses Problem, das wohl viele Menschen mit Essstörungen haben - das Gefühl, nicht krank genug zu sein", sagt sie.
Sie begann, in den sozialen Medien - oft private - Accounts von Menschen zu verfolgen, die ähnliche psychische Gesundheitsprobleme hatten, vor allem Essstörungen und Selbstverletzung. Diese Accounts waren zwar manchmal hilfreich, konnten aber auch als Auslöser wirken.
"Auf manchen der Profile wurde von Genesung erzählt und ständig wiederholt, dass man sich jederzeit in Behandlung begeben kann. Zuerst war ich fasziniert davon und dachte: Vielleicht kann ich diesen Profilen folgen und zur Genesung dasselbe tun wie sie", erzählt Lulu. "Aber das hat zwei Seiten - manchmal wirken solche Berichte über Genesung auch als Auslöser. Manchmal werden zum Beispiel Vorher- und Nachher-Bilder gezeigt, und man denkt: Ich wiege jetzt mehr als die auf dem Nachher-Bild."
Schlimmer noch: Die Algorithmen schlugen ihr bald andere Inhalte vor und zeigten ihr Grabsteine von verstorbenen Jugendlichen und stark untergewichtigen Menschen.
"Ich sage oft zu Freunden, dass Instagram entdeckt hat, dass ich psychisch krank bin", scherzt Lulu. "Facebook hat es noch nicht herausgefunden."
"Es schadet uns auf jeden Fall, aber wir sollten nicht dem Werkzeug die Schuld geben"
"Das Erste, was mir in den Sinn kommt, wenn ich an soziale Medien denke, ist Beeinflussung", sagt Inês. "Sie drücken bei uns mit großer Kraft auf bestimmte Knöpfe und beeinflussen, worauf wir unsere Aufmerksamkeit richten." Sie sagt, sie habe schnell erkannt, dass Facebook ihre Klassenkameraden beeinflussen kann, als sie im Alter von 13 Jahren anfing, Facebook zu nutzen, was, wie sie heute sagt, "viel zu früh" war.
Die sozialen Medien boten eine weitere Möglichkeit, andere zu schikanieren und heimlich über Themen zu sprechen, von denen Kinder in ihrem Alter nicht wollten, dass Erwachsene darauf aufmerksam werden. Das konnte besonders für Menschen mit Essstörungen wie Anorexia nervosa und Bulimie problematisch sein, die ihre Klassenkameradinnen "Anna" bzw. "Mia" nannten.
"Meine Klassenkameradinnen sagten: Ich werde jetzt mit Anna (oder Mia) abhängen. Die Erwachsenen wussten nicht, was das bedeutet. Wenn Erwachsene nicht wissen, wie soziale Medien funktionieren, können sie ihren Kindern nicht helfen, Grenzen zu setzen", erklärt sie. "Also ich denke, es schadet uns auf jeden Fall, aber wir sollten nicht dem Werkzeug die Schuld geben"
"Junge Menschen müssen sich im Umgang mit den sozialen Medien auskennen", fügt Inês hinzu. "Ich glaube nicht, dass ein Kind ohne einen Erwachsenen an seiner Seite, der sich aber auch auskennen muss, mit den sozialen Medien vertraut machen kann - wir müssen das gemeinsam machen, sonst kommen wir nicht weiter."
Dennoch ist sie dankbar, dass sie die sozialen Medien in ihrem Leben hat. "Im Alter von 14 Jahren wurde ich sehr krank und bekam eine Behinderung. Ich habe keine normale Kindheit, Jugend oder junges Erwachsenenalter erlebt. Die Normalität bekam ich durch die Menschen in meiner Online-Community, die Ähnliches erlebt hatten, weil sie dieselbe Diagnose hatten, sodass es für mich sehr hilfreich war, diese Unterstützung zu haben, auch wenn ich mich noch nie in demselben Raum wie sie aufgehalten hatte."
Verbindung, Gemeinschaftsgefühl und Teilhabe
Im Laufe der Jahre hat Lulu hart an ihrer Genesung gearbeitet, und das mit Erfolg - sie hat ihre Selbstverletzungen vollständig eingestellt. Sie ist ehrenamtlich als Botschafterin für EN AF OS in Dänemark tätig, wo sie den dortigen Ärzten und Pflegekräften von ihren Erfahrungen in der Notaufnahme berichtet. Dies trägt dazu bei, die Stigmatisierung von Menschen mit psychischen Gesundheitsproblemen zu überwinden und ihnen letztlich eine bessere Versorgung zu verschaffen.
Sie nutzt die sozialen Medien immer noch fast täglich und folgt sogar Accounts, die Inhalte über psychische Gesundheit veröffentlichen. "Ich folge einigen Accounts von Menschen mit einer Borderline-Persönlichkeitsstörung, und wegen all der Stigmatisierung von Borderline-Patienten hat mir das geholfen, meine Diagnose auf eine neue Weise zu betrachten", sagt sie.
Doch dies ist nicht der Hauptgrund, warum Lulu die sozialen Medien nutzt. "Meine Timeline besteht hauptsächlich aus Künstlern, Musikern und solchen Dingen", sagt sie. "Aber ungefähr einmal in der Woche falle ich in diese Falle von auslösenden Inhalten. Ich bin wirklich sauer auf Instagram, weil es mich mit so vielen triggernden Accounts und Posts füttert."
Warum nicht einfach aussteigen? "Wenn du das tust, bist du von vielen Dingen ausgeschlossen", sagt Lulu.
Inês sieht das ähnlich: "Ich überlege oft, ob ich alle meine Accounts löschen soll, aber eines der wenigen Dinge, die mich dazu bringen, bei den sozialen Medien zu bleiben, ist die Verbindung, die sie zu anderen Menschen - Kollegen, Familie oder Freunden - herstellen. Jeder ist in den sozialen Medien."
"Jeder weiß am besten über seinen eigenen Gebrauch Bescheid"
Sowohl Inês als auch Lulu freuen sich über die Aufmerksamkeit, die die Politik diesem Thema schenkt. Inês warnt Regierungen und Politiker davor, soziale Medien und digitale Technologien als etwas von Natur aus Negatives zu betrachten. "Als ich jünger war, hätte ich, wenn ein Erwachsener zu mir gekommen wäre und gesagt hätte, dass soziale Medien schrecklich sind, nicht einmal zugehört, was er sonst noch zu sagen hatte. Ich hätte mir gewünscht, dass man mich fragt, welche Erfahrungen ich gemacht habe. Jeder weiß am besten über seinen eigenen Gebrauch Bescheid."
Außerdem fügt sie hinzu: "Ich würde nicht auf jemanden hören, der selbst noch nie soziale Medien genutzt hat."
Die sinnvolle Beteiligung junger Menschen an der Entwicklung von Konzepten für die Nutzung digitaler Technologien ist eines der Leitprinzipien, die das WHO-Regionalbüro für Europa in einem neuen Kurzdossier (an dem Inês beratend mitgewirkt hat) skizziert, das sich mit den digitalen Determinanten der psychischen Gesundheit und des Wohlbefindens junger Menschen befasst.
In dem Kurzdossier, das jetzt verfügbar ist, wird vorgeschlagen, dass Regierungen und Unternehmen nicht fragen sollten: "Schaden soziale Medien junge Menschen?", sondern eher "Wie können wir soziale Medien für junge Menschen sicher machen?"