German Federal Chancellor

09/17/2025 | Press release | Archived content

Jüdisches Leben ist ein Teil von uns

Zum 75-jährigen Bestehen des Zentralrats der Juden würdigte Bundeskanzler Friedrich Merz die enorme Bedeutung des Verbands für Demokratie, Erinnerungskultur und das Wiedererstarken jüdischen Lebens in Deutschland. "Ohne Sie kann es keine gute Zukunft für die Bundesrepublik Deutschland geben" sagte er in seiner Rede - und bedankte sich bei allen, die jüdisches Leben in Deutschland seit 1950 möglich gemacht haben.

Der Zentralrat habe seit seiner Gründung aus den Trümmern der Schoa heraus Kraft geschöpft und sei zu einem unverzichtbaren Partner des demokratischen Gemeinwesens geworden: durch den Aufbau von Gemeinden und Synagogen, die Unterstützung jüdischer Zuwanderer, die Förderung von Bildung und Kultur sowie den Einsatz für interreligiösen Dialog. Zugeleich appellierte der Kanzler: "Wir alle sind aufgerufen, einzustehen für ein Miteinander in Freiheit".

Zugleich warnte Merz vor dem Wiedererstarken des Antisemitismus, der seit dem 7. Oktober 2023 "fast Tag für Tag lauter, offener, unverschämter, gewaltsamer" werde. Das deutsche Bekenntnis zur Sicherheit Israels sei "unverhandelbarer Bestandteil der normativen Fundamente unseres Landes".

Der Zentralrat der Juden wurde am 19. Juli 1950 in Frankfurt am Main gegründet - zunächst als Anlaufstelle für die wenigen Überlebenden der Schoa. Heute ist der Zentralrat der Juden die größte Vertretung von Jüdinnen und Juden in Deutschland. Zentralratspräsident ist Josef Schuster. Er setzt sich für die Sichtbarkeit jüdischen Lebens ein, für die Erinnerungsarbeit und den Kampf gegen Antisemitismus in Deutschland. Die Bundesregierung unterstützt diese Anliegen insbesondere durch den Beauftragten für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus, Felix Klein.

Bundeskanzler Friedrich Merz:

Sehr geehrter Herr Präsident, lieber Josef Schuster,

sehr verehrte, liebe Charlotte Knobloch,

Herr Botschafter, lieber Ron Prosor,

Herr Regierender Bürgermeister,

Herr Ministerpräsident,

liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundeskabinett,

Exzellenzen,

sehr geehrte Mitglieder des Direktoriums- und des Präsidiums des Zentralrats,

sehr geehrte Rabbinerinnen und Rabbiner,

sehr geehrte Vertreterinnen und Vertreter der Kirchen und der Religionsgemeinschaften,

liebe Kolleginnen und Kollegen aus dem Deutschen Bundestag,

meine sehr geehrten Damen und Herren!

Gar nicht weit von hier, im Bode-Museum, hing in diesem Sommer für zwei Monate ein kleines, weltberühmtes Bild. Es war eine Leihgabe des Israel Museums aus Jerusalem, darauf eine merkwürdige Figur mit Flügeln und einem Menschengesicht mit weit aufgerissenen Augen und offenem Mund. Viele von Ihnen wissen wahrscheinlich, wovon ich spreche. Es ist das Bild "Angelus Novus" von Paul Klee, gemalt 1920, wenig später erworben durch den deutsch-jüdischen Philosophen Walter Benjamin. Verzweiflung, Entsetzen und Trauer sieht Walter Benjamin in diesem Gesicht, und er nennt es in einem seiner letzten Texte - da ist er schon lange auf der Flucht vor dem Nationalsozialismus - den "Engel der Geschichte". Wo wir sozusagen die "Kette von Begebenheiten" der Vergangenheit sehen, da sieht dieser "Engel der Geschichte" in Benjamins Worten: "[...] eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen".

In diesen Worten, meine Damen und Herren, wird für mich etwas von dem Grauen greifbar, das die überlebenden Jüdinnen und Juden in Deutschland auch nach den Jahren ab 1945 täglich begleitet haben muss. Umgeben waren sie von nichtjüdischen Deutschen, die am liebsten weitermachen wollten, als hätte es den Zivilisationsbruch der Schoa nicht gegeben, die Vergangenheit eben "Vergangenheit" sein lassen wollten. Es scheint uns unfassbar heute, aber es war so: In der Nachkriegszeit, in den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland, wurden die Jüdinnen und Juden alleingelassen mit den Trümmern des Menschheitsverbrechens, das auf deutschem Boden geschehen ist, mit ihrem Entsetzen, mit ihrer Trauer um die Ermordeten, um ihre Mütter, Väter, Kinder, Großeltern, Freundinnen und Freunde, Kolleginnen und Kollegen.

Wie ungeheuer bemerkenswert ist es, dass in dieser Situation Jüdinnen und Juden die Kraft gefunden haben, sich in Deutschland zusammenzutun, sich in Deutschland zu organisieren. Aber so kam es: Am 19. Juli 1950, gerade einmal fünf Jahre nach der Befreiung von Auschwitz also, wurde dieser Zentralrat der Juden in Frankfurt am Main gegründet. Es ist schier unglaublich, dass dieser Zentralrat schnell zu einer Lebensader der demokratischen Kultur in Deutschland geworden ist, zu einem unersetzbaren Partner der Bundesregierung und der Parlamente, zu, wie Sie es gesagt haben, lieber Herr Schuster, "einem Teil der Demokratiegeschichte dieses Landes".

Es war ja erst anfangs anders gedacht. Der Zentralrat sollte eine Institution des Übergangs sein. Er sollte die Interessen der überlebenden, der zurückgekehrten, der vor allem aus Osteuropa geflohenen oder ausgewanderten Jüdinnen und Juden in dem Prozess der endgültigen Auswanderung nach Israel vertreten.

Die Bundesrepublik wäre für immer entwurzelt gewesen ohne jüdisches Leben, ohne jüdische Kultur in unserem Land. Wenn wir darum heute 75 Jahre Zentralrat der Juden in Deutschland feiern, dann feiern wir auch das Geschenk, dass Jüdinnen und Juden hier wieder Heimat gefunden haben - trotz aller Widrigkeit und obwohl der Antisemitismus nie fort war aus Deutschland.

Es sitzen heute viele Menschen hier, die dieses Unglaubliche möglich gemacht haben und immer weiter bis heute möglich machen, die mit ihrem Mut und ihrer Tatkraft dazu beigetragen haben, dass jüdisches Leben in Deutschland sich wieder beheimaten konnte, dass Gemeinden entstanden sind, jüdische Kindergärten, Schulen, Kulturstätten, Restaurants. Neue Synagogen. Sie haben daran erinnert: Erst vor zwei Tagen haben wir in München die Wiedereinweihung der atemberaubend schönen Synagoge Reichenbachstraße feiern können.

Der Zentralrat der Juden in Deutschland stellt für diese vielen Kraftanstrengungen seit nun 75 Jahren gewissermaßen den Rahmen, indem er sich für rechtliche Weichenstellungen zur Wiedergutmachung des nationalsozialistischen Unrechts einsetzt; indem er sich ab 1990 der Verantwortung angenommen hat, den Jüdinnen und Juden aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion bei der Ankunft in Deutschland zu helfen; indem er die Annäherung zwischen der Bundesrepublik und dem Staat Israel und schließlich die deutsch-israelische Freundschaft begleitet hat und bis heute begleitet; indem er Gemeinden vor Ort beim Aufbau von Infrastruktur unterstützt,; indem er aber auch früh die Aufgabe übernommen hat, mitzubauen an der freiheitlichen Welt, eben an der offenen Gesellschaft in Deutschland.

Lieber Herr Schuster, ich darf Sie noch einmal zitieren:

"Wir Juden verstehen uns nicht nur als Träger der Erinnerung oder als Anwälte einer Gedenkkultur, sondern auch als aktiver Teil dieser Welt, die wir heute zum Besseren verändern wollen, nicht nur für uns selbst, nicht nur innerhalb der jüdischen Gemeinschaft oder in Israel, sondern auch gemeinsam mit der Umgebung, in der wir hier in Deutschland und in Europa leben."

Meine Damen und Herren, dieser Geist der Verantwortung für das Gemeinwesen insgesamt, für die offene, freie und vielfältige Gesellschaft, dieser Geist prägt und prägte ganz wesentlich die Arbeit des Zentralrats und die Arbeit aller acht Ihrer bisherigen Vorsitzenden. Sie schaffen Räume für interreligiösen Dialog, für intergenerationalen Dialog, für Begegnungen, die Vorurteile abbauen, die ein Miteinander entstehen lassen.

Meine Damen und Herren, diese Arbeit ist bis heute für uns alle von unschätzbarem Wert. Sie ist es vor allem, weil wir in diesen Tagen und Wochen und Monaten wieder erleben, dass die Idee der offenen Gesellschaft erneut unter Beschuss gerät und mit ihr das normative Fundament unseres Landes, Israels, der freiheitlichen Welt insgesamt: Menschenwürde, Universalismus, Demokratie, das Gebot der Toleranz. Dieses Fundament speist sich eben ganz wesentlich aus den jüdisch-christlichen Traditionen. Wir als Gesellschaft im Ganzen machen uns oft gar nicht mehr bewusst, wie sehr und wie tief wir davon getragen sind.

Auch ich möchte darum an dieser Stelle schon einmal auf das Jahr 2026 vorausblicken, auf die schon zitierte geplante Eröffnung der Jüdischen Akademie in Frankfurt am Main, in der Stadt, in der der Zentralrat vor 75 Jahren gegründet wurde. Die Akademie wird ein Ort der Bildung sein, der Debatte, des Dialogs, des jüdischen Denkens und Wissens, und sie wird damit - dessen bin ich mir sicher, und das wünsche ich mir auch sehr - Impulse für unser Zusammenleben in Deutschland insgesamt setzen.

Wir wissen aber auch heute schon: Die Akademie, ihre Veranstaltungen, sie werden unter Polizeischutz stattfinden müssen, genau wie unsere Veranstaltung hier heute. Sie alle, meine Damen und Herren, die Sie sich im Zentralrat oder in Kooperation mit dem Zentralrat einsetzen und einbringen für unser Land, für Freiheit, Frieden, Menschenwürde, Sie tun das eben unter wieder schwierigeren Bedingungen.

Ich möchte es daher wiederholen: Antisemitismus war nie weg aus Deutschland. Aber seit dem barbarischen Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 wird er fast Tag für Tag wieder lauter, offener, unverschämter, gewaltsamer. Ich möchte Ihnen sagen, wie mich und wie uns alle das entsetzt und wie sehr uns das beschämt. Israelische Restaurants, Orte jüdischen Lebens und jüdischer Erinnerung werden beschmiert und bedroht. Ja, im Deutschen Bundestag und in den deutschen Landtagen werden Stimmen von Geschichtsvergessenen laut. Antisemitische Rhetorik wird normalisiert, ausgerechnet an den Universitäten, ausgerechnet in unseren Kulturräumen, wo wir inzwischen erleben müssen, dass jüdische und israelische Künstler allein aufgrund ihrer Herkunft, allein aufgrund ihres Glaubens Gesinnungstests unterzogen und ausgegrenzt werden. Sie wissen es alle: Am morgigen Tag - viele von Ihnen wären hingegangen - hätte der israelische Dirigent Lahav Shani mit den Münchner Philharmonikern in Gent auftreten sollen. Er ist ausgeladen worden mit dem Verweis auf Haltungsfragen zu seinem Heimatland Israel. Wir haben ihn nach Berlin eingeladen. Er ist gekommen, und wir danken ihm dafür!

Israelkritik und krudeste Täter-Opfer-Umkehr ist immer öfter ein Vorwand, unter dem das Gift des Antisemitismus verbreitet wird. Ja, meine Damen und Herren, eine Kritik an der Politik der israelischen Regierung muss möglich, sie kann sogar nötig sein, und Sie wissen, dass auch ich zuletzt Kritik geübt habe. Aber unser Land nimmt an der eigenen Seele Schaden, wenn solche Kritik zum Vorwand für Judenhass wird oder wenn sie gar zur Forderung führt, dass die Bundesrepublik sich von Israel abwenden solle.

Deswegen will ich es auch heute noch einmal deutlich und klar sagen: Das deutsche Bekenntnis zur Existenz und zur Sicherheit des Staates Israel ist ein unverhandelbarer Bestandteil der normativen Fundamente unseres Landes. Auch und vielleicht gerade dann, wenn Regierungen unterschiedliche Auffassungen vertreten, sind wir in Deutschland in der Pflicht, ohne Unterlass um eine gemeinsame Sprache zu ringen und Gemeinsames zu suchen. Ich möchte Ihnen deshalb, meine Damen und Herren, hier für meine Regierung das persönliche Versprechen geben, dass wir unermüdlich für die einzigartige, so kostbare Freundschaft mit Israel arbeiten - heute, morgen und übermorgen!

Dabei dürfen wir nicht vergessen: Dissens in der Sache ist keine Illoyalität an unserer Freundschaft. Ich habe Ihnen, lieber Herr Schuster, aufmerksam zugehört, wie Sie die Begriffe "Staatsraison" und "Regierungsraison" sorgfältig voneinander unterschieden haben.

Ich möchte zugleich in unsere Gesellschaft hinein sagen: Der Kampf gegen Antisemitismus und Menschenhass und genauso die Erinnerung an die Schoa liegt in der unausgesetzten Verantwortung aller Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes. Wir alle sind aufgerufen, einzustehen für ein Miteinander in Freiheit. Wir alle sind aufgerufen, im Gespräch zu bleiben und uns auch auf andere Sichtweisen einzulassen. Wir alle sind aufgerufen zur Zivilcourage, wo wir Zeugen werden von Antisemitismus, Rassismus, Diskriminierung. Wir alle sind aufgerufen, uns immer wieder zu fragen: Was heißt unsere deutsche historische Verantwortung heute? Was ist unsere Pflicht gegenüber den "Toten und Zerschlagenen" heute, um hier noch einmal Walter Benjamin zu zitieren? - Wir können uns ein Beispiel daran nehmen, wie der Zentralrat selbst Antworten auf genau diese Fragen gibt: als Erinnerungsarbeit, die der Zukunft verpflichtet ist, einer besseren und gerechteren Zukunft für die Kinder und Enkel der Opfer der Schoa, aber genauso für die Angehörigen aller religiösen und ethnischen Gruppen.

Es ist doch vor diesem Hintergrund eigentlich ganz passend, dass wir 75 Jahre Zentralrat an Rosch ha-Schana feiern, einem Fest der Schwelle, einem Fest, das sich zugleich verbindet mit dem Blick zurück auf das vergangene Jahr und mit der Vorfreude auf das Anbrechende, auf das, was möglich ist und kommen kann. Ich möchte den Jüdinnen und Juden in Deutschland heute sagen: Ohne Sie kann es keine gute Zukunft für die Bundesrepublik Deutschland geben.

Ich möchte allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Zentralrats der Juden in Deutschland sagen: Ich danke Ihnen aus ganzem Herzen für Ihren unermüdlichen Einsatz, für Ihre Bereitschaft, sich immer wieder und gerade in diesen Tagen immer wieder an die Arbeit für die Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland zu machen, für die Pflege der jüdischen Traditionen.

Im Namen der Bundesrepublik Deutschland, im Namen der Bundesregierung und auch ganz persönlich: Ich gratuliere Ihnen herzlich zu 75 Jahren Zentralrat der Juden in Deutschland, und auch ich wünsche Ihnen, lieber Herr Schuster, ihren Mitstreitern und uns allen ein friedliches und gesundes neues Jahr. Schana tova!

German Federal Chancellor published this content on September 17, 2025, and is solely responsible for the information contained herein. Distributed via Public Technologies (PUBT), unedited and unaltered, on September 19, 2025 at 09:03 UTC. If you believe the information included in the content is inaccurate or outdated and requires editing or removal, please contact us at [email protected]