Stiftung Universität Hildesheim

10/15/2024 | Press release | Distributed by Public on 10/15/2024 06:24

15. Oktober 2024 Ringvorlesung: Wozu noch Literatur

Ringvorlesung: Wozu noch Literatur?

Dienstag, 15. Oktober 2024 um 14:02 Uhr

Durch den digitalen Wandel werden Buch- und Literaturmarkt und somit das gesamte Feld der Literatur vollständig umgewälzt. Viele Akteur*innen nehmen diese Veränderung dystopisch wahr: Verlage sterben oder kürzen; Monopolisierungen nehmen stark zu und kleinere Verlage haben kaum noch Überlebenschancen; Übersetzungen werden durch ChatGPT angefertigt; Honorare bröckeln. Die literarische Öffentlichkeit wandert ab zu Social-Media: Diskurse werden völlig neu geführt; Kultur, Kunst, aber auch Politik und Gesellschaft, suchen im Wintersemester 2024/2025 ab dem 23. Oktober jeden Mittwoch zwischen 12 und 13 Uhr c.t. im großen Seminarraum des Hohen Hauses KC.50.4.02 Antworten auf die Frage: "Wozu noch Literatur?"

Das, was Menschen heute schreiben und lesen, hat mit der analogen Welt, etwa derjenigen nach dem zweiten Weltkrieg, nicht mehr viel zu tun. Nach wie vor drucken Verlage Bücher auf Papier. Neue Werkzeuge lösen herkömmliche Schreibprozesse ab und auch die Lesepraxis nimmt an Perspektiven zu: Eine fragmentierte Öffentlichkeit ersetzt eine vorherige globale Überschau. Im digitalen Raum interagieren Autor*innen mit Lesenden und dynamisieren ihre Schreibprozesse: Nischen und Minderheiten erhalten früher unvorstellbare Stimmen. Zugleich ist dieser Raum auf Basis seiner Algorithmen sehr viel leichter manipulierbar. Er tritt eventuell an die Stelle der herkömmlichen Kommunikationsräume, etwa die traditionelle Literaturkritik. Virtuelle Räume ermöglichen gesellschaftliche Wirksamkeit und Nähe. Der Austausch über Gelesenes erfolgt nicht mehr nur in Textform, sondern über Social-Media-Kanäle, deren User verschiedene Muster und Rituale erproben oder neu erfinden.

Wer keine Bücher liest, ersetzt diese durch andere Medien: Serien und Filme auf Streaming-Plattformen, Social-Media (Instagram, TikTok, YouTube). Sogar die Lektüre selbst ersetzen die sozialen Medien: Unter dem Hashtag #booktok ausgesprochene Empfehlungen sind für Verlage und Buchhandel wichtiger als eine Rezension im traditionellen Feuilleton.

Der fortschreitende digitale Wandel, KI und maschinelles Lernen, eigentlich generative Sprachmodelle, eröffnen auch bei der Texterstellung täglich neue Möglichkeiten. Das hat Auswirkungen auf literarische Übersetzungen: Gerade Übersetzer*innen erhalten ein niedriges Honorar. Sie sehen sich gezwungen, auf solche Sprachmodelle zurückzugreifen, um mindestens Rohübersetzungen anzufertigen. Da Übersetzungen den größten Anteil am Buchmarkt einnehmen, sind Auswirkungen auf Verlagswelt, Buchhandel, aber auch Leser*innen, gravierend. Sprachmodelle verfassen auch literarische Texte. Was für viele noch unglaublich wirkt, geschieht in der Genre-Literatur, deren Anteil an der Gegenwartsliteratur stetig wächst, bereits. Eine KI produziert im Anschluss an einen Prompt noch keinen fertigen Roman. Gerade das Erarbeiten eines Handlungsgerüsts kann sie inzwischen allerdings unterstützen. - Mit Auswirkungen darauf, wie Lesende lesen und welche Erwartungen sie an Fiktionen stellen. An Literatur, die Welten erschafft und das Gegenwärtige verstehen hilft.

Über diese Realitäten versuchen die Vortragenden der Ringvorlesung Diskurse anzuregen; nicht normierend, sondern konstruktiv lernend, beobachtend und beschreibend. Diese Vorlesung findet nicht als Frontalveranstaltung, sondern überwiegend als Diskurs statt.

Anspruch der Organisator*innen ist es, wichtige literarische Stimmen der Gegenwart, Repräsentant*innen aus Verlagen, Medien und Wissenschaft zu Wort kommen zu lassen. - Neben Vertreter*innen der Universität Hildesheim, insbesondere des Literaturinstituts. Der aktuelle Literaturbetrieb bietet eine Vielzahl oft sehr formbewusster Texte, in denen etwa Menschen mit einem internationalen Hintergrund, die aktuell ein Drittel der deutschen Gesamtgesellschaft ausmachen, zu Wort kommen. Das Erfordernis ihrer Teilhabe am gesellschaftlichen Diskurs erläutert Dr. Guido Graf vom Hildesheimer Literaturinstitut mit den Worten: "Sie stehen sinnbildlich für mehr Stimmen, mehr unterschiedliche Stimmen, andere Tonlagen, andere Adressierungen - also eine Vielfalt, die wir als wichtige Ressource für die Gesellschaft lesen können. Gerade wenn demokratische Strukturen in unserem Land bedroht sind und die offene Gesellschaft von vielen Menschen nicht mehr als Chance begriffen wird, bedarf es besonderer Anstrengungen in der kulturellen Bildung und mehr noch: auch der Literatur als Imaginations- und Reflexionsraum. Ohne Literatur sind wir trost- und einfallslos."

Diese Ringvorlesung ist eine Veranstaltung des Labors für digitale Textpraxis.

Ablauf

23.10. Dana von Suffrin (Autorin, München): Bedeutung und Bedeutungsverlust. Über jüdische Literatur

30.10. Christian Schärf (Uni Hildesheim): Literatur und Einsamkeit

06.11. Cécile Wajsbrot (Autorin, Berlin/Paris): Ist Literatur noch Gegenwart?

13.11. Toni Tholen (Uni Hildesheim): Wozu noch Literatur lehren?

20.11. Jenifer Becker (Uni Hildesheim), Daniel Sigge (Berlin): BookTok und Reading-Communities

27.11. Simon Roloff (Leuphana Lüneburg): Slop: Literatur und KI-Ästhetik

04.12. Insa Wilke (Literaturkritikerin, Berlin): Literatur und ihre Kritik? - Systemrelevant!

11.12. Daniela Seel (Autorin und Verlegerin, Berlin): Die Lächerlichkeit von Gedichten

18.12. Thomas Klupp (Uni-Hildesheim): Die Geschichten in uns

08.01. Mithu Sanyal (Düsseldorf): Wieviel Welt darf in die Literatur?

15.01. Jo Lendle (Autor und Verleger - Hanser, München): Thema folgt

22.01. René Aguigah (Leiter Ressort Literatur, Deutschlandfunk Berlin) & Dirk Knipphals (Literaturredakteur taz, Berlin): Bücher? Uns doch egal! Literatur in den Medien

29.01. Kritter Kollektiv/Annette Pehnt (Uni Hildesheim): Wir werden gemeinsam oder wir werden gar nicht: Schreiben im Kollektiv

05.02. Denis Scheck (Moderator, Literaturkritiker; Köln): Die 10 Gebote des Lesens

Erstellt von Viktoria Helene Ong
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