SSP-VPOD - Syndicat des Services Publics

12/17/2025 | News release | Distributed by Public on 12/17/2025 08:05

«Die Interessenvertretung hat Vorrang»

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VPOD-Magazin: Die VPOD-DV gibt dir mit der einstimmigen Wahl ein belastbares Mandat. Siehst du das auch so?

Rebekka Wyler: Ich hoffe, dass die Leute mich nicht nur gewählt haben, weil es keine Auswahl gab...Aber ich hatte ja schon mit einigen Kolleginnen und Kollegen in unterschiedlichen Gremien und Konstellationen zu tun. So dass ich glaube, dass man sich schon ein gewisses Bild machen konnte von mir. Und nicht die Katze gänzlich im Sack kaufen musste.

Als Reaktion auf deine von vielen erhoffte Bewerbung hörte man auch da und dort ein «Warum tut sie sich das an?». Mit der Taskforce im Frühling hast du die eine oder andere der Leichen im VPOD-Keller bereits entdeckt. Die Aufgabe schreckt dich nicht?

Lass es mich mit den Worten Herman Greulichs, des VPOD-Gründers, sagen. Er hat geseufzt, dass «ein vielköpfiger Meister, aus Arbeitern bestehend, mitunter viel schlimmer ist als irgendein Bourgeois». Also: Ich weiss in etwa, was auf mich zukommt. Ich habe davor Respekt. Aber es entspricht auch meinem Naturell, dass ich es mag, wenn die Dinge nicht ganz einfach sind. Probleme kann man auch als Chancen sehen. Der Service public ist zudem ein grosses und ergiebiges Thema. Und zuversichtlich stimmt mich, dass es in diesem Verband ein enormes Potenzial gibt.

An der Delegiertenversammlung hast du einen schönen Satz gesagt, der mindestens in den Kalender kluger Sprüche gehört - wenn nicht gar auf ein Kissen gestickt: «Wer Potenzial sagt, sagt auch Konfliktpotenzial.»

Oft wissen die verschiedenen Gruppen oder Milieus oder Flügel - oder wie auch immer du sie nennen willst - wenig übereinander. Dann fehlt auch das Verständnis. Man muss sich schon aufeinander einlassen, sich füreinander interessieren, einander zuhören. Es braucht dazu eine unvoreingenommene und unkomplizierte Art, wie sie auch meine Vorgängerin, Natascha Wey, besass. Der VPOD hat in solchen Dingen ja jahrzehntelange Übung. Er hat beispielsweise von Anfang an die «Kragenlinie» überwunden, also nicht nach Blue oder White Collar gefragt.

Also danach, ob man sich bei der Arbeit schmutzig macht oder nicht. Heute sind wohl andere Konfliktlinien wichtiger.

Es gibt - im VPOD sehr ausgeprägt - verschiedene Branchen und Berufe. Es gibt eine gewisse politische Bandbreite. Und es gibt Fragen, in denen die Sprachregionen unterschiedlich ticken, wobei man auch das Tessin nicht vergessen sollte. Die Kunst besteht im Zuhören und in der Abstimmung der Interessen.

Man könnte sagen, dass das eine - durchaus zu wenig gewürdigte - Leistung der Gewerkschaften ist: dass sie verschiedene Arbeitnehmendengruppen versöhnen und verbinden und es so auch dem Arbeitgeber leichter machen. Wo das nicht funktioniert, geschehen Dinge wie der Lokführerstreik in Deutschland, der fast mehr auf konkurrierende Gewerkschaften als gegen den Arbeitgeber zielte.

Absolut. Wobei hier ja auch das Gebaren einer Arbeiteraristokratie sichtbar wird, die sich eine sehr starke Hebelwirkung zunutze machen kann. Wenn du oder ich morgen nicht ins Büro gehen und «Streik» rufen, wird sich die Welt erst einmal weiterdrehen.

Ist nicht auch der VPOD Vertretung einer solchen Aristokratie? Von Beschäftigten, denen es eigentlich schon ziemlich gut geht?

Dort lassen sich - denken wir an die Blockade am Bareggtunnel, mit welcher das Rentenalter 60 auf dem Bau durchgesetzt wurde - die Kräfteverhältnisse sauber darstellen. Beim öffentlichen Dienst ist alles viel komplizierter, weil der politische Prozess hineinspielt. Und dann fehlen uns Dachorganisationen, wie es sie in der Industrie gibt.

Oder sehr grosse Arbeitgeber wie eine Post oder eine SBB. Wir hingegen stehen allein bei der Verwaltung über 2000 Gemeinden, 26 Kantonen und der Bundesverwaltung gegenüber. Theoretisch. Wir können gar nicht überall sein.

Der Föderalismus und die subsidiäre Struktur sind nicht a priori schlecht. Die Frage ist vielmehr, ob es uns Arbeitnehmenden gelingt, eine übergreifende Strategie zu entwickeln, ob wir das immer weitere Auseinanderdriften der Arbeitsbedingungen aufhalten und wieder nivellieren können. Und zwar nach oben. So kleinteilig wie vor 100 Jahren wird es nicht mehr werden, dass der VPOD in jedem grösseren Dorf eine Sektion aufrechterhält. Du hast recht, es ist herausfordernd.

Eine andere, vielleicht noch grössere Herausforderung ist die Auslagerungspolitik. Sie hat dazu geführt, dass sich - etwa bei den Spitälern - die Anzahl der Arbeitgeber und die Unterschiede in der Rechtsform weiter multipliziert haben. Die grossen Outsourcing-Wellen mögen vorbei sein, aber viel Schaden ist angerichtet. Die ausgelagerte Spitalreinigerin verdient deutlich schlechter...

Gerade an diesem Beispiel kann man überlegen, wo eigentlich die Grenzen des Service public verlaufen. Meine Position ist da klar: Die Reinigung etwa in einem Spital oder in der öffentlichen Verwaltung gehört dazu. Diese Leute müssen Teil der Belegschaft sein, sie sollen auch beim Weihnachtsessen und beim Betriebsausflug dabeisein. Und vor Ort wird das auch so empfunden. Die Dienstleistung wird nur mit vereinten Kräften erbracht.

Natürlich bringt allein die Tatsache einer neuen Person am VPOD-Ruder positive Bewegung. Du ergreifst das Steuer aber in recht stürmischer See. Was hast du vor? Wohin lenkst du das Schifflein?

Erwarte von mir jetzt nicht pfannenfertige Rezepte! Ich werde mir zuerst einen Überblick verschaffen und mit vielen Kolleginnen und Kollegen landauf landab reden. Was ich sagen kann: Es sind Dinge auf unterschiedlicher Flughöhe an die Hand zu nehmen. Da ist der Bereich der Kommunikation im weitesten Sinn, wo es darum gehen wird, die Bekanntheit des Verbandes zu stärken und den Menschen im Service public (wieder) zu Ansehen und Respekt zu verhelfen. Damit untrennbar verbunden ist die Mitgliederentwicklung, wo - vor allem für grosse Teile der Deutschschweiz - eine Trendwende gelingen muss. Aktuell sehen wir in der Westschweiz eindrückliche Streikbewegungen. Welche Freude! Gleichzeitig muss man auch die Kosten solcher Mobilisierungen im Griff behalten. Und darf nicht vollständig einer entfesselten Kampagnenlogik verfallen, die den Aufbau von unten her aus dem Blick verliert

Die Gewerkschaft ist etwas anderes als eine Versicherung!

Schon, aber das persönliche Interesse - etwa am Rechtsschutz - ist ebenfalls legitim. Die Motive für den Gewerkschaftseintritt sind deutlich bodenständiger und materieller als diejenigen für den Beitritt zu einer Partei, etwa zur SP. Ein weiteres Thema sind die Finanzen, deren Schieflage zu beheben ist. Und strukturell wird man im Bereich Governance hinschauen müssen und darauf hinarbeiten, dass Aufgaben, Kompetenzen und Verantwortung besser übereinstimmen, als das heute der Fall ist.

Du erwähnst die SP, wo du CoGeneralsekretärin warst. Hast du aus dieser - ähnlich grossen - Organisation vielleicht Erfahrungen, die auch für den VPOD hilfreich sind? Was sind überhaupt die Unterschiede zwischen Partei und Gewerkschaft?

In der Partei ist alles politisch, während eine Gewerkschaft nicht immer zu jeder Frage eine Meinung haben und eine Resolution verfassen muss. Ich sage immer: Wer nicht in die Gewerkschaft geht, ist selber schuld. Du kannst jeden Tag Puff bekommen mit deinem Chef. Ich selber war als Angestellte zweimal in Situationen, wo mir der Support des VPOD sehr geholfen hat. Die SP hat kein solches Angebot. Höchstens eine Karriere-Offerte für Leute, die nach oben wollen. Aber dafür geht man dann vielleicht doch besser zur FDP. . .

Und sonst so?

An beiden Orten geht es darum, die föderale Struktur unseres Landes abzubilden. Bei der SP sind die Sektionen und Kantonalparteien jeweils eigene Rechtspersönlichkeiten. Natürlich gibt es einen Mittelfluss nach oben, weil Dienstleistungen zentral erbracht werden. Aber alle haben eigenes Geld und können eine eigenständige Politik machen, notfalls auch mit eigenen Abstimmungsparolen. Das funktioniert überraschend gut, nicht mit Zwang, sondern auf der Basis der Freiwilligkeit. Beim VPOD sehe ich zudem einen gewissen Handlungsbedarf beim Zusammenspiel zwischen Apparat und Basis. Welche Arbeitsteilung gibt es zwischen den Regionen und den beiden Zentralsekretariaten? Auch an den Hearings habe ich immer wieder gehört, dass man die Möglichkeiten, die sich vor Ort bieten, besser nutzen will und muss. Und dabei sollte man möglichst im Konkreten bleiben, weil die weltanschauliche Ebene vielleicht eine Partei, aber gewiss keine Gewerkschaft zu tragen vermag.

Wenn wir von Weltanschauungen sprechen: Der VPOD war jene Gewerkschaft, die sich am ehesten und am stärksten für die aus 1968 hervorgehenden sozialen Bewegungen geöffnet hat.

Walter Renschler war für den VPOD das, was Helmut Hubacher für die SP war. Die Frauenbewegung, die Klimabewegung, das sind grosse Kräfte, mit denen man heute einen Modus der Zusammenarbeit finden muss. Gleichzeitig teile ich die Meinung etwa von VPOD Luftverkehr, dass die gewerkschaftliche Interessenvertretung und die Verteidigung des öffentlichen Dienstes vor der «Ideologie» den Vorrang hat. Es war während Corona, als in gewissen SPKreisen plötzlich Jubel aufkam: Juhui, die Flugzeuge alle am Boden! Dort sollen sie bleiben! Da mochte ich nicht einstimmen. Denn es ging und geht auch um diejenigen, die in diesen Branchen arbeiten und die beim Grounding um Lohn und Brot kommen. Eine ökologische Wende gestaltet man nicht als Hauruck-Übung, sondern nur mit sorgfältiger und sozialer Abfederung.

Und gerade bei den Bodendiensten am Flughafen befinden sich unsere schlechtestverdienenden Mitglieder...

Indem man die sozialen Standards dort ein wenig anhebt, wird das Fliegen etwas teurer. Das wäre kein Schaden. Aber das Gegenteil geschieht. Ein Beispiel dafür ist der unsägliche Entscheid der Zürcher Volkswirtschaftsdirektion, der die Swiss zum Lohndumping via Air Baltic ermächtigt.

Diese Frage führt uns zum Thema Europa, das ja eines der herausforderndsten werden könnte in der VPOD-Ära Wyler/ Dandrès. Die Bilateralen III liegen auf dem Tisch, und es gibt Anzeichen, dass hier einmal mehr auch im VPOD ein Röstigraben aufbrechen könnte.

Und vor allem ein Polentagraben, denn das Tessin ist in dieser Frage ja besonders exponiert. Ich erachte es als wichtig, dass wir SGB-Gewerkschaften eine gewisse Arbeitsteilung vornehmen und dass wir uns als VPOD auf jene Themen konzentrieren, die für unsere Leute relevant sind. Also in erster Linie auf das Stromabkommen und die staatlichen Beihilfen. Es war schon bei den Bilateralen I und II klar: Die Gewerkschaften sind beim Europa-Dossier, zusammen mit der SVP, eine Blockademacht. Diese Position gilt es in einer konstruktiven Weise zu nutzen. Persönlich glaube ich, dass an einer vertragsbasierten Zusammenarbeit mit der EU kein Weg vorbeiführt. Es gilt nun, sich nicht zu billig zu verkaufen. Aber gleichzeitig müssen wir uns von den Ausländerfeindinnen und Reaktionären distanzieren. Der Weg führt nicht zurück in die Vergangenheit, nicht zu unmenschlichen Einrichtungen wie dem Saisonnierstatut.

Und beim Strom?

Auch beim Stromabkommen gibt es widersprüchliche Interessen, die sorgfältig austariert werden müssen. Höhere Preise für die Nutzerinnen und Nutzer sind eine Befürchtung. Andererseits ist auch klar, dass der Umstieg auf Erneuerbare, weil deren Zufluss sehr wechselhaft ist, miteinander verbundene Netze voraussetzt.

Man muss sozusagen ganz Europa involvieren, um sicherzustellen, dass irgendwo die Sonne scheint (oder der Wind weht).

Die Netzstabilität ist eine immense Aufgabe. Und bei den Europadossiers handelt es sich überhaupt um eine komplexe Angelegenheit; allein die Unterlagen zum Stromabkommen umfassen über 100 Seiten. Meine Überzeugung ist, dass wir nur mit der EU vorankommen, nicht im Alleingang gegen sie. Als Gewerkschaft müssen wir aber die Interessen unserer Mitglieder schützen. Und das gelingt am besten, wenn wir unsere Vetomacht für Verbesserungen nutzen. Ohne die früheren Bilateralen hätten wir viele soziale Fortschritte nicht erreicht. Und das gilt auch für das Hier und Heute. Ein schönes Beispiel dafür ist der Kündigungsschutz für gewerkschaftliche Vertreterinnen und Vertreter. In dieses Dossier ist dank Europa endlich wieder Bewegung gekommen - was für ein guter Move!

SSP-VPOD - Syndicat des Services Publics published this content on December 17, 2025, and is solely responsible for the information contained herein. Distributed via Public Technologies (PUBT), unedited and unaltered, on December 17, 2025 at 14:05 UTC. If you believe the information included in the content is inaccurate or outdated and requires editing or removal, please contact us at [email protected]