12/10/2025 | Press release | Distributed by Public on 12/11/2025 07:29
Feldexperiment auf Reddit: Warum die Mehrheit schweigend mitliest und wie sich Beteilgung steigern lässt.
Wer spricht im Netz? Wenige Aktive bestimmen den Online-Diskurs. Das hat Auswirkungen auf die Wahrnehmung der öffentlichen Meinung.
© MPI für Bildungsforschung
Wer durch Kommentarspalten von Online-Medien, Debattenforen oder Social Media scrollt, mag das kennen: Wenige sehr aktive Stimmen dominieren die Debatte, während die Mehrheit still mitliest. Dieses Ungleichgewicht kann den Eindruck erwecken, dass extreme Meinungen weiter verbreitet sind, als sie tatsächlich sind - und Polarisierung befördern.
In einem Feldexperiment haben Forschende des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, der TU Dresden und der Universität Stanford mit 520 Teilnehmenden in den USA diese Dynamik auf der Debattenplattform Reddit untersucht. Ziel war es, nicht Posts und individuelle Effekte zu messen, sondern die Gruppendynamik, die entsteht, wenn viele Menschen gleichzeitig reden - oder schweigend mitlesen. Die Ausgangsfrage war grundlegend: Warum tragen in Online-Debatten wenige sehr aktive Nutzende ("Power-User") den Großteil der Diskussion, während die Mehrheit stumm bleibt? Und lässt sich dieses Ungleichgewicht verändern?
Für ihr großangelegtes Experiment richteten die Forschenden sechs private, eigens erstellte Themenräume (Subreddits) mit jeweils bis zu 100 Teilnehmenden in den USA ein. Über vier Wochen tauschten sich die Gruppen zu insgesamt 20 verschiedenen politischen Themen unter der Beobachtung der Forschenden aus. Die Forschenden analysierten 5.819 Kommentare innerhalb der Subreddits, weitere 62.000 Beiträge der Teilnehmenden außerhalb der Studienforen sowie Umfragen, die Teilnehmende vor, während und nach den Diskussionen beantworteten.
Wer eine Diskussionsumgebung als toxisch, respektlos oder stark polarisiert wahrnimmt, beteiligt sich öfter gar nicht. Unter denen, die sich dennoch äußern, hängt dies allerdings mit besonders vielen Kommentaren zusammen -- so wirkt eine aufgeheizte Diskussionsumgebung möglicherweise sogar motivierend für eine aktive Minderheit (Power-User). Besonders aktiv waren Männer, politisch stark Interessierte und Menschen, die ohnehin regelmäßig online kommentieren.
Die Forschenden testeten außerdem verschiedene Maßnahmen, um still Mitlesende zu motivieren, etwas zur Diskussion beizutragen. Finanzielle Anreize von zwei US-Dollar pro Tag für mindestens einen ernsthaften Kommentar steigerten die Beteiligung tatsächlich, konnten die Dominanz einzelner Vielschreiber jedoch nur moderat reduzieren. Normappelle wie "Bitte bleibt respektvoll" hatten kaum Wirkung, während positives Feedback in Form von Upvotes auch mit gesteigerter Aktivität am nächsten Tag einherging.
Lisa Oswald ist Erstautorin der Studie und Wissenschaftlerin am Forschungsbereich Adaptive Rationalität des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin. "Die Beteiligungslücke verzerrt Wahrnehmungen. Wer die Kommentarspalte unter einem Nachrichtenartikel liest und annimmt, so denke die die Öffentlichkeit, irrt oft gewaltig."
Für Plattformbetreiber und Community-Manager liefert die Studie konkrete Hinweise: Eine Kombination aus positiven, nicht-monetären Anreizen für Erst- und Qualitätsbeiträge, klaren und konsequent durchgesetzten Regeln zur Reduktion sichtbarer Toxizität sowie mögliche Kommentarobergrenzen für extrem Aktive kann die Beteiligung verbreitern und die Wahrnehmung öffentlicher Meinungen realistischer machen.
Die Studie wurde im Rahmen von Horizon Europe "Social Media for Democracy" (Some4Dem) gefördert. Die Daten und der Code der Studie sind anonymisiert öffentlich zugänglich und bieten damit seltene Einblicke in die Dynamik von Diskussionen auf Social-Media-Plattformen.